1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
LiteraturAlbanien

Mein Europa: Trauer um Ismail Kadare

5. Juli 2024

Der albanische Schriftsteller Ismail Kadare ist tot. Mit seinen Werken gab er einem internationalen Publikum Einblicke in seine Heimat. Unser Gastautor ist Albanologe und Übersetzer und kennt Kadares Werk.

Schwarz-Weiß-Aufnahme des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare
Der Schriftsteller Ismail Kadare ist am 1. Juli 2024 in Tirana gestorben: Er wurde 88 Jahre altBild: Thibault Camus/AP/picture alliance

Im Jahr 2016 warb der deutsche Schriftsteller Maxim Biller in einer Ausgabe der populären Fernsehsendung Literarisches Quartett für Ismail Kadare - dafür, dass er präsenter im deutschsprachigen Raum sein und die ihm gebührende Anerkennung erhalten solle. Er warb für Kadare als einen der großen Erzähler des 20. Jahrhunderts, der wieder einmal nicht den Literaturnobelpreis bekommen hatte. Und dann sagte Biller: "Sein Pech ist halt leider nur, dass er ein albanischer Schriftsteller ist."

Jahrzehnte war Albanien von der Welt abgeschnittenBild: dpa/picture alliance

Diesen Satz darf man sich ruhig auf der Zunge zergehen lassen. Gemeint war damit, dass nicht nur Kadare gerne vergessen wird, sondern auch sein Heimatland. Umso tragischer, wenn man bedenkt, dass sich die Menschen in Albanien nach der jahrzehntelangen totalen Isolation des Landes unter dem Diktator Enver Hoxha bis heute nichts sehnlicher wünschen, als zu Europa zu gehören.

Als Student in Moskau

Biller warb besonders für den damals gerade auf Deutsch erschienenen Roman "Die Dämmerung der Steppengötter", den Kadare 1978 auf Albanisch veröffentlicht hatte. Das Buch ist aus drei Gründen eines seiner eher untypischen Werke: Erstens ist es stark autobiographisch geprägt und fängt seine Zeit als Student am Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut Ende der 1950er Jahre ein.

Zweitens schildert der Autor hier ein reales Umfeld mit einem realen historischen Hintergrund; die Handlung ist also nicht etwa in einem halbfiktiven Osmanischen Reich angesiedelt, das als Metapher auf das totalitäre Albanien gelesen werden kann. Und drittens ist dieser Roman äußerst amüsant zu lesen, Kadare geht hier mehr mit Humor als mit bleierner Tragik vor, um die Unzulänglichkeiten eines Systems zu schildern.

Der Mensch im totalitären System

Doch auch in diesem Buch geht es um den Menschen in einem totalitären System - ebenso wie zum Beispiel in dem Roman "Die Pyramide", der ebenfalls als Ausnahme gelten kann, da die Handlung hier nach Ägypten ausgelagert ist. Ismail Kadare selbst gab in einem Interview an, dass es schwer zu beurteilen sei, ob es für einen Autor von Nachteil ist, wenn er selbst in einem totalitären Regime schreiben muss. Dieser Umstand nämlich beflügelte Kadare, Werke zu verfassen, die ganz oberflächlich als historische Romane bezeichnet werden könnten, die aber zahlreiche Schichten beinhalten und immer auf Individuen verweisen, die einem System ausgeliefert sind und darin verloren gehen, buchstäblich bis hin zur Auslöschung. Die meisten von Kadares Texten spielen in dem kleinen Land Albanien und spannen doch stets gleichzeitig einen Bogen zu universellen Themen.

Diktator Enver Hoxha - hier bei der Stimmabgabe im November 1978 - regierte das kleine Albanien von 1944 bis 1985 Bild: AFP/Getty Images

Arbeitet man wie ich zu Motiven der albanischen Literaturgeschichte, so ist es unmöglich, um Kadare einen Bogen zu machen. Man kann eine Pause von Kadare einlegen, doch man wird ihn nie ganz zur Seite legen können. In meiner Zeit als Dozent der Albanologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München habe ich mehrfach Literaturseminare zu Ismail Kadare angeboten. Er hat eine solche Fülle an Werken hinterlassen, dass es oft nicht einfach ist, Texte auszuwählen. Man könnte über ein ganzes Studium hinweg in jedem Semester ein neuer Kurs zu ihm anbieten.

Kadare in Deutschland

Der deutschsprachige Raum hat Kadare nicht mit offenen Armen willkommen geheißen. So erinnert sich Peter Platzmann, Mitbegründer der Deutsch-Albanischen Freundschaftsgesellschaft, an einen Besuch des Autors auf der Frankfurter Buchmesse 1982: "Kadare war damals in Deutschland noch kaum bekannt, als einziges war im Claassen-Verlag der 'General der toten Armee' herausgekommen. Wir haben dann sämtliche Verlage auf der Buchmesse abgeklappert, aber niemand hat sich für Kadare interessiert."

Unser Autor Florian Kienzle kennt Albanien und seine Literatur gut: Er ist Albanologe, Lyriker und LiteraturübersetzerBild: Frederike Kienzle

Das einzige Mal, dass ich Kadare persönlich sah, war 2007 auf einer Buchmesse in Basel. Es war eine der letzten Veranstaltungen der Messe, und man hatte ihn zusammen mit der kroatischen Autorin Dubravka Ugresic auf eine Bühne gesetzt, auch sie eine herausragende Autorin. Zu sagen hatten sich die beiden nichts, was wohl auch an dem Format der Veranstaltung lag. Mich beschlich das Gefühl, die Organisatoren hatten sich einfach gedacht, die sind ja beide vom Balkan, sollen die mal was über Pulverfässer und Kriege erzählen. Bei deutschsprachigen Schreibenden würde man es für unethisch halten, willkürlich Schubladen zu öffnen und Kunstschaffende dort hineinzupacken. Der Prozess, Kadare als einen Autor von Weltruf zu würdigen, ist in Deutschland noch lange nicht abgeschlossen, anders als etwa in Frankreich, wo er weit früher und intensiver geehrt wurde.

Der Autor und seine Heimat

Im Großen und Ganzen war die Position Europas gegenüber Ismail Kadare ebenso wie die gegenüber seinem Heimatland Albanien: Jein. Aber auch in Albanien wird Kadare wenig geschätzt. Fieberten die Menschen zur Zeit der Diktatur noch jedem neuen Werk des Autors entgegen, das für sie ein kleines Fenster zur Welt öffnete, hat sich heutzutage eine große Leseunlust breitgemacht. Vollmundig werden die Helden der Nation erwähnt, aber mit ihrem Wesen und Wirken wird sich kaum beschäftigt. Dabei müsste Kadare keine Liebhaberei von Akademikern sein. Er kann sogar am Strand verschlungen werden.

Ismail Kadare war mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert - hat ihn aber nie erhaltenBild: Frank Rumpenhorst/dpa/picture-alliance

Ismail Kadare ist 88 Jahre alt geworden. Geboren wurde er 1936 im südalbanischen Gjirokastra, dem er in einem seiner schönsten Romane "Chronik in Stein" ein Denkmal gesetzt hat. Bei einem meiner letzten Besuche in Albanien entdeckte ich in seiner Heimatstadt ein Straßenschild mit der Aufschrift "Narrengasse". Die kannte ich aus dem Roman und habe mir einen Stein von der Straße mit nach München genommen. So wie er sind auch die Themen in Kadares Werk unvergänglich.