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Mein Europa: Ungarn und die Pressefreiheit aus der Ikea-Tüte

Kornelia Kiss
3. Mai 2024

Die 2018 gegründete unabhängige Wochenzeitung Magyar Hang entstand als Reaktion auf die Einschränkung der Pressefreiheit im Orban-Ungarn. Sie ist Krisenphänomen und Erfolgsgeschichte zugleich.

Ein Mann mit Brille und in T-Shirt (György Zsombor) verteilt Zeitungen
György Zsombor, Chefredakteur von Magyar Hang, verteilt im Mai 2018 die neu gegründete Wochenzeitung Magyar Hang auf den Straßen von BudapestBild: privat

Mein Chefredakteur, György Zsombor, und ich standen an einem Zebrastreifen in der Lichtstraße in Budapest. Es war Mai 2018, kurz nach den Parlamentswahlen in Ungarn, bei denen Fidesz, die Partei des Premiers Viktor Orban, erneut eine Zweidrittelmehrheit erhalten hatte. Wir hatten einen langen Tag gehabt: Den ganzen Nachmittag hatten wir unsere neue Zeitung namens Magyar Hang auf der Straße verkauft. Unermüdlich hatten wir Passanten immer wieder erklärt, dass die Tageszeitung Magyar Nemzet, bei der wir vorher gearbeitet hatten, über Nacht geschlossen worden war. Dass die Entscheidung, die Zeitung zu schließen, einen politischen Hintergrund hatte. Dass wir, das Redaktionsteam, eine neue Zeitung gegründet hatten.

Magyar Hang heißt Ungarische Stimme. Sie ist eine unabhängige Wochenzeitung. Wir erklärten Passanten damals, dass unsere gesamten Einnahmen aus Straßenverkäufen stammten. Die Kosten für den Druck betragen wöchentlich etwa 1000 Euro. Seit damals will keine Druckerei in Ungarn das politische Risiko eingehen, unsere Publikation zu drucken, also müssen wir sie in der Slowakei drucken. Die Frage, wann wir, die Journalisten, ein Gehalt erhalten würden, konnten wir damals nicht beantworten.

Die DW-Gastautorin Kornelia Kiss. Sie ist Mitbegründerin und Redakteurin von Magyar HangBild: Laszlo Vegh

Am Ende des damaligen Tages waren wir richtig müde. György Zsombor, damals 36, trug eine blaue Ikea-Einkaufstasche mit den restlichen Zeitungen, Abo-Formularen, den Tageseinnahmen, Sonnencreme und einem Strohhut. Wir warteten an jenem Zebrastreifen schweigend auf das Grün der Ampel. "Und dies sind unsere schönsten Jahre", sagte György plötzlich und ohne jede Vorrede. Es war, als hätte er einen Satz beendet, an dessen Anfang unser ganzer bisheriger Lebenslauf stand. Er wirkte eher sachlich als verbittert. Er blickte weit weg, weit über das rote Licht hinaus. Vielleicht blickte er in eine Welt, die niemals uns gehören würde: Eine Welt, in der ein Chefredakteur sein Büro nicht in einer blauen Ikea-Tüte hat und in der man die schönsten und produktivsten Lebensjahre nicht damit verbringen muss, wieder in allem von vorne zu beginnen. So, wie es so vielen unserer ungarischen Vorgänger immer wieder passiert war.

Nicht überall erhältlich

Unsere Zeitung hat seitdem allen Vorhersagen getrotzt und wird nun sechs Jahre alt. Inzwischen bekommen wir eine halbwegs anständige Bezahlung, es ist nicht das, worüber wir am meisten zu klagen hätten. Mit einer wöchentlichen Auflage von etwa 12.000 Exemplaren ist Magyar Hang heute die zweitmeistverkaufte Wochenzeitung Ungarns. Sie ist an Zeitungskiosken und auch in Supermarktketten erhältlich - in denen, die sich in ausländischem Besitz befinden. Die in ungarischem Besitz befindlichen Ketten bieten Magyar Hang nur in einigen wenigen ihrer Filialen an. Wir wissen nicht, warum.

Die Wochenzeitung Magyar Hang ist in Ungarn nur eingeschränkt erhältlichBild: privat

Es gibt viele solcher seltsamen Erfahrungen. Zur wichtigsten wöchentlichen Regierungspressekonferenz, die meistens am Donnerstag stattfindet, wird Magyar Hang nicht zugelassen, mit der Begründung, dass die zweitgrößte Wochenzeitung Ungarns nicht von genügend Menschen gelesen wird. Im Sommer 2018 hatten wir die Gelegenheit, als frisch gegründete Redaktion einen kleinen Stand auf einem beliebten ungarischen Festival, dem "Tal der Künste" in der Nähe des Plattensees, aufzubauen. Das Publikum freute sich sehr über uns, wir gewannen eine Menge Leser. Im Jahr darauf erhielten wir die Nachricht, dass wir nicht kommen dürften. Eine offizielle Begründung gab es nicht. Natürlich wird das Festival auch vom Staat gefördert.

Abgestempelt als "Dollar-Medien"

Wir sind solche Dinge gewöhnt. Dass auf einem Festival keine zwei mal zwei Meter große Fläche frei ist, selbst wenn eine frei ist. Dass es auf einer Pressekonferenz keinen einzigen leeren Stuhl gibt, selbst wenn es einen gibt. Dass Werbekunden keine Anzeige in der Zeitung schalten, weil sie das politische Risiko nicht eingehen wollen. Dass jemand kein Abonnement abschließt, selbst wenn er das möchte, denn wenn die Post die Zeitung liefert, könnte der Bürgermeister herausfinden, zu wem. Dass es zwar Presseabteilungen gibt, die Presseanfragen aber nur in absoluten Ausnahmefällen beantworten.

Ungarns Premierminister Viktor OrbanBild: Damir Hajdarbasic/PIXSELL/picture alliance

Ähnlich ist es mit dem Medienmarkt: Es gibt ihn, aber es gibt ihn auch nicht. Der Staat finanziert die ihm genehmen Medien nach Herzenslust durch staatliche Werbeanzeigen. Die restlichen können versuchen, dem Wettbewerb des Marktes standzuhalten. Wenn man dagegen bei einer internationalen Bewerbung Geld für den Kauf von drei Kameras gewinnt, kann man von der Kommunikationsarmee der Regierung jederzeit als "ausländisch finanzierte Presse" bezeichnet werden. Oder einfach als "Dollar-Medien". "Dollar" ist der neueste Begriff im Diffamierungswörterbuch der Orban-Ordnung. Er wird allen angeheftet, die Kritik am System äußern. Sie sind dann einfach vaterlands- und gewissenlose Söldner, aus dem Ausland finanziert: "Dollar-Aktivisten", "Dollar-Opposition" oder eben "Dollar-Medien".

Pressefreiheit in reduziertem Modus

In letzter Zeit haben mich viele ausländische Bekannten gefragt, was dieses "Amt zum Schutz der Souveränität" sei, das vor kurzem von der Regierung Ungarns ins Leben gerufen wurde. Es soll den "ausländischen Einfluss" in verschiedenen Organisationen, einschließlich den Medien, untersuchen und feststellen, ob dabei "Ungarns Souveränität" verletzt wird. Gegen eines der wichtigsten Investigativ-Portale, Atlatszo, läuft bereits eine Untersuchung. Die Juristin, die ich von meiner Ausbildung her bin, weiß, dass dieses Amt laut dem Gesetz, durch das es gegründet wurde, keine Sanktionen verhängen kann. Warum also die Aufregung? Meine Erfahrung als Journalistin zeigt, dass die Regierung das Rechtssystem oder die Institutionen des Staates sehr kreativ nutzen kann, wenn es um ihre machtpolitischen Ziele geht. Selbst die Verfassung soll bald auch wieder geändert werden - zum dreizehnten Mal seit 2010.

Schon 2010 protestierten Redaktionen ungarischer Zeitungen mit leeren Titelblättern gegen die Medienpolitik der ungarischen Regierung unter Viktor OrbanBild: AP

Natürlich ist Ungarn nicht Russland, wo Journalisten inhaftiert und Publikationen verboten werden. Aber ich kann nicht vorhersagen, wie weit die ungarische Regierung gehen kann. Wir erwarten, dass etwas passieren wird. Aber gleichzeitig erwarten wir es nicht. Denn letztendlich war das unser Ziel gewesen, als wir unsere Zeitung gegründet hatten: nicht in Angst zu leben, nicht aus Angst unwürdige Kompromisse einzugehen. Wir haben unsere Grenzen gezogen. Es ist ein ziemlich kleines Reich. Pressefreiheit in reduziertem Modus.

Der Frühling 2024 war nicht so sonnig wie der von 2018. Aber nun scheint die Sonne seit langer Zeit wieder. In einem Augenblick lachen meine Kolleginnen und Kollegen im Redaktionsbüro laut. Ich weiß nicht, worüber sie lachen, ich mache gerade Kaffee in der Küche. Es gibt gute Dinge in Osteuropa. Zum Beispiel, dass man Generation für Generation die außergewöhnliche Chance erhalten kann, alles von vorne anzufangen. Oder die Witze. Die sind sehr gut, und es gibt viele davon. Ich erinnere mich, dass der Mietvertrag für unser erstes Redaktionsbüro, eine kleine Mietwohnung auf der rechten Donau-Seite in Budapest, fast unmittelbar nach der Unterzeichnung gekündigt wurde, weil die Hausbewohner herausgefunden hatten, dass im Haus regierungskritische Presse produziert wird. Die offizielle Begründung lautete jedoch, dass wir zu laut lachen. Das ist sechs Jahre her. Dies sind die schönsten Jahre unseres Lebens.

Die Autorin ist Journalistin bei Magyar Hang und Mitglied der Gründungsredaktion.

Kornelia Kiss Journalistin, Redakteurin bei Magyar Hang
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