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Politik

Mein Europa: Unterwegs

György Dalos
1. Oktober 2016

Vor dem Referendum zur Flüchtlingsfrage in Ungarn reflektiert Gastkolumnist György Dalos über die Progapanda der Orbán-Regierung - und prägende Begegnungen auf seinen Reisen in diesem Sommer.

Ungarn Georgy Dalos Schriftsteller Buchemesse Leipzig 2011
Bild: imago stock&people

Am Plattensee, wo ich den Geburtstag einer ungarischen Freundin feierte, stellte ich mir ungewollt die Frage: Warum musste eigentlich Putin vor zwei Jahren die Halbinsel Krim besetzen? Die Krim ist teuer, ihre touristische Infrastruktur schwach, vom ukrainischen Gebiet aus schwer erreichbar. Wäre es nicht einfacher, den ungarischen Badeort Hévíz zu erobern, und zwar ohne einen einzigen Schuss, nur mit Geld? Im Grunde genommen ist das schon geschehen: Die Stadt ist voller russischsprachiger Plakate, welche die Dienstleistungen vor Ort rühmen: Baden, Massage, medizinische Betreuung und Therapie. Ein kleiner Grundwortschatz soll das Shoppen erleichtern. "Wie viel kostet...?" kann der Reisende aus Russland in kyrillischer Transkription und ungarischer Sprache vorlesen, genauso wie "Die Rechnung, bitte", sowie zwischen hellem und dunklem Bier wählen. Selbst für die Seele wird gesorgt: Zunächst werden Gottesdienste in einem Gebetshaus abgehalten, aber man sammelt schon für den Bau einer richtigen orthodoxen Kirche.   

Vom Hotel aus kann man Busausflüge buchen: In das Einkaufszentrum Parndorf an der österreichischen Grenze, nach Bratislava mit Abendessen inklusive, nach Györ und in die Abtei Pannonhalma mit Mittagessen, nach Szigliget zur Weinprobe und in die Puszta zum Schaureiten. Die Preise dieser Sonderfahrten bewegen sich zwischen 35 und 95 Euro, die Hotelzimmer liegen bei 200 Euro. Vor uns haben wir jene Mittelschicht, die das Rückgrat der Putinschen Welt bildet. Die Reicheren suchen nicht nur Wellness und Heilung, sondern werfen ihr prüfendes Auge auf die Villen und Wohnungen, welche die Broschüren in ihrer Landessprache anbieten. Ein Luxushäuschen in Budapest - für 200.000 Euro - ist für sie vielleicht zu teuer, aber eine bescheidene Datscha am Plattensee aus der Ära Kádár - für 75.000 Euro - können sie sich leisten.

Spannung aufrechterhalten bis zum Tag des Referendums 

Unterwegs vom Plattensee nach Budapest sieht man zahllose Riesenplakate, auf denen die Regierung Orbán für das Referendum am 2. Oktober wirbt. Auf blauem Hintergrund in gelben Buchstaben stehen Fragen wie: "Wussten Sie, dass Brüssel bei uns eine ganze Stadt von Migranten zwangsansiedeln will?" oder "Wussten Sie, dass die Attentate in Paris von Migranten verübt worden sind?" und "Wussten Sie, dass Migranten bereits 300 Frauen vergewaltigt haben?" Unter jeder Frage steht in kleineren Buchstaben: "Referendum, 2. Oktober 2016." Die verhüllte Regierungspropaganda in diesen Fragen richtet sich nicht einmal auf den erfolgreichen Ausgang des Volksentscheids, von dem so gut wie nichts abhängt - schließlich besteht auch keine Absicht bei der EU, Ungarn eine Quote aufzuzwingen. Wichtig ist für Orbán, die Spannung bis zum Tag der Abstimmung aufrechtzuerhalten. Es gibt nichts Einfacheres, als im Besitz von Medien die Demokratie gegen den Demos zu mobilisieren, die verachtete Menge in der Illusion zu wiegen, dass auch sie über etwas entscheiden darf.

Flüchtlinge an der ungarisch-serbischen GrenzeBild: DW/A.V. Pal

Am 13. August wurde ich als Redner nach Marienborn eingeladen, wo der zwanzigste Jahrestag der Gedenkstätte der deutschen Teilung gefeiert wurde. Vor dem Ereignis führte man uns durch die Containerhäuser und Wachbuden, die jetzt, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall, eher grotesk als furchteinflößend wirken. Schließlich war die DDR kein Nordkorea und es gelang nie, die beiden deutschen Staaten hermetisch voneinander abzuriegeln. Allein durch das Fernsehen schauten sich 70 Prozent der Ostdeutschen täglich im Nachbarstaat um und lebten jahrzehntelang mit den visuellen Parallelen der Bundesrepublik.

Verdacht gegen Reisende aus dem Nahen Osten in der DDR

Wir besuchten die Räumlichkeiten, wo die jeweiligen Listen mit Einreiseverboten aufbewahrt wurden. Hier wurden auch die für eine gründlichere Prüfung vorgesehenen Pässe eingesammelt, und zwar in den Regalen mit der Aufschrift "DDR", "BRD" und "Ausland". Es gab aber noch ein viertes Regal, mit dem winzigen Etikett "Kairo". Unter dem Code der ägyptischen Hauptstadt wurden Reisende aus dem Nahen Osten, Migranten, die unterwegs zwischen Westberlin und Westdeutschland waren, als potenziell terrorverdächtige Elemente registriert.

Unterwegs von Berlin nach Marienborn musste ich in Magdeburg umsteigen. Am Hauptbahnhof war der Großraumwagen bereits voll. Ich möchte keineswegs gegen die Regel der politischen Korrektheit verstoßen, aber es waren mehrheitlich sichtbar arabische Reisegäste, unter ihnen ein Ehepaar mit vier Kindern und ziemlich viel Gepäck. Das Familienoberhaupt setzte sich neben mich. Ich habe die ganze Zeit auf meinem Tablet Fernsehnachrichten geschaut - alles über die Olympischen Spiele in Rio, darunter die mehrmals wiederholte Szene, wie der ägyptische Sportler seinem Kollegen (Anm. d. Red.: aus Israel) den Händedruck verweigerte. Mein Nachbar guckte auf meinen Bildschirm und dann auf mich. Ich dachte, wenn wir eine gemeinsame Sprache hätten, wäre es vielleicht möglich, auch das gemeinsame Thema zu finden.

In Magdeburg stiegen alle aus und der Regionalzug fuhr erst in einer halben Stunde nach Marienborn-Helmstedt weiter. Diesmal war der Wagen fast leer, aber - welch Wunder! - "meine" Araber saßen schon da. Ich grüßte sie mit einer spontanen Kopfbewegung. Das Familienoberhaupt reagierte nicht, wechselte jedoch ein paar Worte mit seiner Frau, die daraufhin plötzlich mich anschaute, und auch die Kinder warfen mir einen Blick zu. Ich war mir sicher, dass sie über mich sprachen. Schließlich waren wir Bekannte.

Der ungarische Schriftsteller und Historiker György Dalos lebt in Berlin. 1995 wurde er mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, 2010 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 

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