1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Viktor Orbáns Licht und Schatten

Boris Kálnoky
7. April 2018

Ungarns Ministerpräsident hofft am Sonntag auf eine weitere Amtszeit. Es wäre seine vierte. Sein Bild in den Medien gerät oft einseitig - dabei hat er einiges geleistet, meint der Ungarn-Korrespondent Boris Kálnoky.

Boris Kálnoky
Bild: privat

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán wird gern als "Populist" beschimpft. Ich fragte ihn einmal, warum das wohl so ist. "Weil ich das bin", sagte er. "Populist" bedeutet für ihn "Demokrat": Verstehen was die Menschen umtreibt, und das thematisieren.  Nationalkonservativ? Auch ein "Demokrat". Die Nation, das sind die Wähler. Ihre Interessen vor alles andere zu stellen, ist die Pflicht jeder gewählten Regierung.

Ungarn zuerst

Mit diesem Prinzip des "Ungarn zuerst" hat Orbán das Land tiefer geprägt als jeder Politiker seit der Wende. Er regiert seit 2010, davor bereits 1998-2002. Am Sonntag wird wieder gewählt. In den Umfragen liegt seine Partei, Fidesz, weit vorn.

Um zu verstehen warum, muss man ins Jahr 2006 zurückgehen. Da wurde ein interner Ton-Mitschnitt des damaligen sozialistischen Regierungschefs Ferenc Gyurcsány publik. Pausenlos habe er das Volk belogen, war auf dem Tondokument zu hören. Etwas zerbrach damals. Der Glaube an die Vorzüglichkeit der Demokratie, und die Überzeugung, dass dank der Wende immer alles besser wird. Massenproteste gegen Gyurcsány wurden brutal niedergeschlagen. Ich stand damals vor meiner Haustür in Budapest und beobachtete fassungslos, wie die Enkel der Kommunisten - die Sozialisten - mit Gummigeschossen auf die Enkel der Revolutionäre von 1956 schießen ließen - die von Orbán geführte bürgerliche Opposition.

In der Krise groß geworden

Dann kam die Wirtschaftskrise 2008/9. Das Land kollabierte. Ungarn wurde das erste EU-Mitglied, das einen IWF-Kredit brauchte. In einem Gefühl allgemeiner Ohnmacht richteten sich alle Augen auf Orbán, der einen Neuanfang versprach: Ungarn müsse wieder mit dem eigenen Kopf denken. Sein Schlachtruf hieß "Freiheit".

Wie schon 1989 hatte er, noch vor der Wende, als junger Studentenführer den Abzug der Russen gefordert. Das katapultierte ihn auf die politische Bühne. Aufbruchstimmung lag in der Luft, und Orbán verkörperte sie.

Jetzt aber verkörperte er das Gefühl, dass dieser Aufbruch misslungen war, neue Wege nötig waren. Er gewann erdrutschartig die Parlamentswahlen 2010.

Orbán versprach einen NeuanfangBild: imago

Den Medien ans Schienbein getreten

Schon 1998-2002 hatte er regiert, und das war gut gewesen. Er investierte massiv in die Bildung. Ungarns einziger Rohstoff sei die Intelligenz seiner Jugend, sagte er mir damals. Er senkte die Staatsschulden, stärkte die Familien. Und verlor trotzdem die nächsten Wahlen 2002 - gegen Lügen-Gyurcsány. Es war ein Schock, der ihn veränderte. Er kam zu dem Schluss, dass ihn die nach links tendierenden Medien zu Fall gebracht hatten. So trat er nach seiner Rückkehr an die Macht zuallererst der Presse mit einem scharfen Mediengesetz ans Schienbein. Das empörte alle Journalisten. Diese Empörung färbt seither die Darstellung Orbáns in den Medien.

Dabei hat er viel geleistet. Statt in der Schuldenkrise die Bürger auszuquetschen, nötigte er multinationalen Konzernen Sondersteuern ab und senkte die Steuern für Bürger und Mittelstand. Die Steuereintreibung wurde effizienter. Die Staatsschulden schrumpften von 82 auf 72 Prozent des BIP. Er verordnete die Zwangskonvertierung sogenannter Devisenkredite weit unter Marktwert. Die (ausländischen) Banken bluteten, aber Hunderttausende Haushalte wurden vor der Schuldenfalle gerettet. Die Wirtschaft wächst, die Löhne steigen, es herrscht fast Vollbeschäftigung. Orbáns Grenzzaun hält Ungarn aus der Flüchtlingskrise heraus.

Politik des starken Staates

Licht und Schatten: Er macht den bürgerlichen Geist zunichte, dessen Vorkämpfer er einst war. Der "Bürger" als aktives Mitglied der Gesellschaft, der Verantwortung tragen und Leistung erbringen will: Es war Orbán, der dieses Denken wieder einführte, obwohl es nach dem Kommunismus gar kein Bürgertum mehr gab. Aber seine Politik des starken Staates, der alles lenkt, ist das Gegenteil bürgerlicher Selbstverantwortung. Staatsaufträge werden nicht nach dem bürgerlichen Leistungsprinzip vergeben, sondern an Verbündete.

Er beendete den Würgegriff politisch korrekten Denkens und war damit ein Aufklärer im Nebel hohler Phrasen. Heute vernebelt er selbst: Seine Anti-Soros-Kampagne, die das Bild einer Weltverschwörung zur Zerstörung Europas an die Wand malt, verstellt den Blick auf komplexere Wahrheiten. Er hat die Macht zentralisiert, und das Zentrum ist er selbst. Das verspricht Chaos, wenn er einst abtritt. Wenn man seinem Umfeld glauben darf, will Orbán seine eigene Nachfolge und eine Erneuerung seiner Partei behutsam in die Wege leiten - wenn er die Wahlen gewinnt. Das wäre nötig, denn er hat die Jugend weitgehend verloren. Den einzigen Rohstoff also, den das Land hat. Das macht die Wahl spannender, als man gedacht hätte. "Wir können verlieren", sagt einer seiner Berater. "Aber es wäre eine Überraschung."

Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent für die "Welt" und andere deutschsprachige Medien. Er ist Autor des Buches "Ahnenland" (Droemer 2011), in dem er sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt - unter anderen der k.u.k. Außenminister Gustav Kálnoky.