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Politik

Was machen die Franzosen mit Europa?

Jagoda Marinic
21. April 2017

Europa liegt auf dem OP-Tisch, warnt die deutsch-kroatische Schriftstellerin Jagoda Marinic. Ein Sieg der rechten Kandidatin Marine Le Pen in Frankreich könnte zu einem Schnitt durch die Mitte Europas führen.

Jagoda Marinic Autorin
Bild: D. Piroelle

Denken wir in diesen Tagen, an denen der nasskalte Regen dem Frühling in die Parade gefahren ist, doch einmal an den Regenwurm. Gemeinhin ist der Irrglaube verbreitet, so ein Regenwurm könne sich, wenn man ihn teilt, einfach regenerieren. Das ist leider nicht so. Trennt man sein hinteres Ende ab, so kann der Regenwurm dieses Hinterende wieder vollständig herausbilden. Vorne kann er die ersten vier Segmente ersetzen. In der Körpermitte ist das Regenerationsvermögen jedoch am schwächsten. Man durchtrennt keinen Regenwurm und erhält dabei zwei quicklebendige Würmer. Man kann jetzt, wenn es einen interessiert, sein Biologiebuch aus dem Keller holen oder einmal nach Regenwürmern und Regenerationsvermögen im Internet suchen. Man kann sich auch fragen, was das alles mit Europa zu tun hat: Wie viel Europa lässt sich von Europa abschneiden? Wie lange noch können wir diesen Kontinent auf den OP-Tisch legen, an ihm herumschneiden, schnellere und langsamere Europas erfinden und dabei immer noch so tun, als ob wir Europa vor uns hätten? Ab welchem Segment ist dieses Europa nicht mehr regenerierbar? An diesem Wochenende geht es um viel.

Das siebzigjährige "Friedensprojekt" hat nicht allen Frieden gebracht 

Marine Le Pen, die Langstreckenläuferin der europäischen Rechten, möchte als Präsidentin Frankreichs Europa in der Mitte durchtrennen. Der Frexit wäre kein Segment, das nachwächst. Der Frexit wäre der Schnitt durch die Mitte Europas. Nun muss man sich als Europäerin schon deshalb über Europa ärgern, weil das eigene Schicksal von ein paar Millionen Franzosen entschieden werden kann. Franzosen, von denen wir im Grunde nichts wissen. Denn wir kennen die Leidenden nicht, sie demonstrieren nicht, sie reisen nicht. Die Abgehängten sitzen nicht in Talkshows oder sind die Helden der großen Aufmacher in Zeitungen. Wir kennen nur die Umfrageergebnisse, Zahlen, das war's. Dabei sind wir eine Schicksalsgemeinschaft.

Natürlich hat das neoliberale Europa der letzten Jahrzehnte viele abgehängt. Es hat zudem eine Spaltung zwischen Nord und Süd verursacht. Natürlich hat die Jugend des Südens die Zukunft in der Arbeitslosenstatistik verloren. Ich schreibe diesen Text aus Istrien. Jeden Tag fahre ich an einer stillgelegten Textilfabrik vorbei und höre immer wieder Geschichten darüber, wie diese Fabrik einst 2.000 Menschen Arbeit und Einkommen gab. Arbeitsplätze, die nun in Indien, China oder sonstwo zu finden sind, wo die Lebenszeit des Menschen, wenn sie zur Arbeitszeit wird, noch weniger wert ist. Die nächste Generation, die Kinder der Textilarbeiter, sind heute meist in der Gastronomie zu finden. Ich erinnere mich an einen Sommer, da war aus der Politik zu hören, man solle sich darauf einrichten, dass diese Region Europas in den nächsten Jahrzehnten die Bettlaken der Nordeuropäer waschen wird. Nicht gerade ein Werbespruch für Solidarität.

Die Langstreckenläuferin der europäischen Rechten: Marine Le Pen Bild: Getty Images/AFP/L. Bonaventure

Mir scheint, die Menschen in Europa haben ihre Gemeinsamkeiten und damit Europa immer noch nicht verstanden. Die Europäer schimpfen auf ihre Eliten, sie suchen aber nicht nach ihren Schicksalsgenossen in den Nachbarländern. Europa, dieses große Friedensprojekt. Allein die Ignoranz der europäischen Politik, ständig vom siebzigjährigen Frieden zu sprechen! Das kann sich die politische Elite nur leisten, weil Europa noch lange nicht zusammengewachsen ist. Es gäbe noch viel zu tun, um es als den Kontinent zu verstehen, der er ist - das zeigt sich spätestens jetzt, wo der Zusammenhalt bröckelt. In Europa herrschte Krieg - das siebzigjährige Friedensprojekt hat nicht allen Frieden gebracht. Jugoslawien blieb außen vor und dort geschah im Kleinen, was nun manche politischen Kräfte im Großen proben. Statt einer für alle und alle für einen sollte es besser heißen: Wir für uns. Ich frage mich, ob der französische Volkswille wirklich davon ausgeht, dem Volk werde es besser gehen als kleine "Grande Nation" auf der Welt, statt als "Grande Nation" in einem - global gesehen - großen Europa.

Was wurde aus der Macht der kleinen Länder im EU-Gefüge? 

Hier in Istrien rede ich mit Menschen meiner Generation, jenen also, die sich an das sozialistische Jugoslawien erinnern, aber doch schon Teil des Turbokapitalismus sind. Wenn keiner in der Nähe ist, stellen sie immer wieder die unerhörte Frage, was wäre, wenn man gemeinsam in Europa eingetreten und somit mächtiger wäre? Es ist ja nicht mehr vorstellbar, es ist für viele fast schon Blasphemie, überhaupt dieses Gedankenspiel zu wagen; aber neulich meinte einer nach ein paar Gläsern Wein: "Als Jugoslawien wären wir in Europa jemand gewesen. Als Jugoslawien wären wir ein Markt, der ein Gewicht hätte. Jetzt hat jeder seins. Das wollten wir. Und alles wird von Investoren aufgekauft."

In den größten Zeitungen Kroatiens ist diese Woche zu lesen, dass korrupte Politiker laut einer Studie die besseren Chancen haben, gewählt zu werden. Man dachte ja, es wird alles besser, wenn man das Eigene in den Mittelpunkt stellt. Doch die Straßen, die verfallenen Immobilen, die Krankenhäuser, die öffentlichen Schulen, also alles, was dem Volk gehört und ihm zugute kommt, steht nicht zwingend besser da. Das Versprechen, sich um das Eigene zu kümmern, wird nicht zwingend der Allgemeinheit zugute kommen, sicher jedoch jenem "Homo Oeconomicus", der wendig seine ohnehin gute Ausgangslage zu verbessern weiß.

Es gab eine Zeit, da hätte man keinem Reichen dieser Welt erlaubt, eine Insel zur Privatinsel zu machen. Schon gar nicht einem Brad Pitt. Jetzt wird oft von außen über das Land verfügt, aber von strategischen Impulsen in Richtung Brüssel hört man hier leider wenig. Was wurde aus der Macht der kleinen neuen Länder im EU-Gefüge? Und was wird aus den großen Ländern, wenn sie morgen alleine vor Trump oder Putin stehen und verhandeln wollen? Das sollte man sich bitte überlegen, bevor man Europa in der Mitte durchtrennt. Es wäre tragisch, wenn - wie in Großbritannien - auch in Frankreich erst am Morgen nach der Wahl alle den Begriff "Europa" im Internet suchen. Vielleicht tippen die Leute ja auch vor der Wahl nochmal "Regenwürmer" in die Tastatur. 

Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin. Sie wurde als Tochter kroatischer Einwanderer in Waiblingen geboren. Zurzeit lebt sie in Heidelberg. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Made in Germany - Was ist deutsch in Deutschland?". Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander.

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