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Politik

Mein Europa: Wie Osteuropa homophob wurde

Norbert Mappes-Niediek
12. Februar 2021

Intoleranz gegen Homosexuelle ist keine Eigenheit des Ostens unseres Kontinents. Im Gegenteil: In Sachen sexueller Orientierung herrschte dort lange mehr Toleranz als im Westen.

Ungarn Budapest Pride LGBT* Homosexuelle Gleichstellung
Bild: Gergely Besenyei/AFP/Getty Images

Einen "Nebenwiderspruch" hätte man Homosexualität zu kommunistischen Zeiten genannt. Zum ersten ost-westlichen Bruchpunkt wurde sie erst nach der Wende. Seit 1989/90 vertreten vor allem nationalistische Politiker in osteuropäischen Ländern, die das eigene Volk sonst als "tolerantes" Gegenstück zum "übergriffigen", "missionarischen" Westen preisen, offensiv maximale Unduldsamkeit gegenüber Lesben und Schwulen.

"Sei intolerant, sei normal!", stand auf den Plakaten einer rechtsextremen Partei in Bulgarien. Nicht alle Schwulenfeinde hätten es so brutal auf den Punkt gebracht. Wer bezeichnet sich schon selbst gern als intolerant? Aber die Partei traf einen Nerv.

Dabei ist Intoleranz keineswegs eine osteuropäische Eigenheit - und Homophobie erst recht nicht. Im Gegenteil, in Sachen sexueller Orientierung hat in Osteuropa lange mehr Toleranz geherrscht als etwa in Deutschland oder Großbritannien.

Es waren westliche Länder, die im bürgerlichen Zeitalter die großen historischen Skandale um "Unzucht unter Männern" inszenierten: In England waren es die Affären um Oscar Wilde und später um Peter Wildeblood, in Deutschland um den Fürsten zu Eulenburg, den SA-Führer Ernst Röhm und - noch in den 1980er Jahren - um den Bundeswehr-General Günter Kießling.

Früher war der Osten weiter

In Osteuropa wurde das Thema nicht so wichtig genommen. Strafen für Sex unter Männern hat es etwa in Polen seit der Unabhängigkeit 1918 so wenig gegeben wie in Frankreich oder Italien. In der Sowjetunion schied das Thema die Stalinisten und Nationalbolschewiken von den Reformern und den Revolutionären: Unter Lenin wurden Strafen abgeschafft, unter Stalin wieder eingeführt.

Norbert Mappes-NiediekBild: Privat

Die tschechoslowakischen Kommunisten wollten Homosexualität schon 1950 entkriminalisieren, mussten sich aber einem Veto aus Moskau beugen. Schon 1957 wurde Sex zwischen erwachsenen Männern in der DDR straffrei, 1961 in Ungarn und im Jahr darauf endgültig auch in der Tschechoslowakei. Großbritannien dagegen war erst 1967 so weit, die Bundesrepublik Deutschland 1969 und Österreich 1971.

Intolerant war der Nordwesten

Wenn es historisch in Fragen sexueller Toleranz je eine Scheidelinie über den Kontinent gab, dann trennte sie allenfalls einen toleranteren Osten und Südwesten von einem intoleranten Nordwesten. Auch nach der großen Wende 1989/90 mit ihren vielen Neuerungen und Umbrüchen wurde dem Thema zunächst keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Als im Jahr 2000 die EU die Diskriminierung von Homosexuellen am Arbeitsplatz verbot, regte sich im katholischen Polen, das damals von dem evangelischen Premier Jerzy Buzek regiert wurde, leiser Unmut. Aber hinhaltender Widerstand gegen solche Regelungen war unter Konservativen überall in Europa gang und gäbe; Polen war da keine Ausnahme.

Ein Kulturkampf mit Ambivalenzen

Dann aber wurde aus dem Streit um die Gleichstellung von Schwulen und Lesben, um eingetragene Partnerschaft und Homo-Ehe ein ost-westlicher Kulturkampf mit hohem Mobilisierungspotenzial - der erste seit 1989. Paradoxerweise waren es die politischen Konnotationen, die das Thema "sexy" machten. Die Popkultur dagegen griff das Thema kritisch oder ironisch auf.

In Russland spielte das Girl-Duo "t.A.T.u." mit Homo-Assoziationen, in Serbien gewann die Sängerin Marija Šerifović damit den Eurovision Song Contest und wurde zur nationalen Ikone. Wenig später bekam das Land sogar eine homosexuelle Regierungschefin. Gerade für Serbien war das eine Gelegenheit, Ambivalenz auszudrücken: Mit ikonischen Lesben kann man Offenheit zeigen, ohne die patriarchalischen Rechten mit ihren Starke-Männer-Kulten über Gebühr zu reizen.

Homosexualität als Import

Trotzdem hält die Spannung an. Homo-Szene-Kneipen müssen sich tarnen. Schwulenverbände und Bürgerrechtler kämpfen überall in der Region zäh darum, in möglichst vielen Städten Gay-Pride-Umzüge möglich zu machen. Jede trotz Angriffen abgehaltene Parade wird als Sieg gefeiert.

Wo es besonders schwierig oder sogar gefährlich ist, sich zu outen, wie in manchen Balkanländern, marschieren manchmal westliche Politiker oder Diplomaten dem Zug voran - und stützen damit unfreiwillig die Behauptung, Homosexualität käme aus dem Westen und sei dem eigenen Volk fremd.

Eine psychologische Deutung

Was wird da verhandelt? Argumente werden für den Streit kaum benötigt. "Was da angeführt wird: Bestand des Volkes, Demoralisierung der Armee, Bedrohung der Ehe: Das sind alles nur Rationalisierungen", sagt der Berliner Sexualforscher Martin Dannecker. Die Ehe etwa werde durch homosexuelle Heiraten streng genommen sogar aufgewertet.

Dannecker deutet Homophobie, auch die aktuelle östliche, psychologisch. Hinter der Feindseligkeit stehe ein tiefer "Zweifel über die Kohärenz der Werte". In Zeiten der Unsicherheit liefert nur "die Natur" noch unverrückbare Gewissheit - scheinbar wenigstens. Um dem schwachen, unsicheren Staat Autorität zu verleihen, würden Staat und Familie immer in einem Atemzug genannt.

"Widernatürliche" Sexualität

In Wahrheit aber werde die "natürliche" Norm, auf die man sich berufe, als brüchig angesehen. Das sehe man schon daran, dass man sich, um ihr zu genügen, ständig "am Riemen reißen" müsse. Schwule und andere sexuelle Minderheiten ließen offenbar die nötige Disziplin vermissen.

Wozu aber muss man sich am Riemen reißen, wenn sich das richtige, natürliche Verhalten eh von selbst versteht? Dem Widerspruch entkommt niemand, der für die traditionellen Geschlechterrollen und gegen "widernatürliche" Sexualität streitet: Wenn die Natur alles so fest vorgibt, wie die Homophoben behaupten, lassen die Geschlechtsidentitäten sich eben auch durch keine Lebenswirklichkeit, keine Gay-Pride-Parade und keine "homosexuelle Propaganda" verwischen. Eigentlich also könnten sie dem Treiben ganz gelassen zusehen.

Woher kommt der Hass?

Gehasst werden Schwule, so Dannecker, "weil sie für Passivität stehen". Nicht nur persönlich machen viele Menschen in Osteuropa die Erfahrung, zur Passivität verdammt zu sein. Vielmehr teilt die ganze Nation, mit der man sich doch identifiziert, dieses kränkende Schicksal. Sie wird belehrt, gegängelt, im Verhältnis zum Westen, der sich als gebender, spendender Teil inszeniert, zur passiven Empfängerin gemacht - mit einem Wort: zur Frau.

Gay-Pride-Parade in Warschau, 2016Bild: picture-alliance/dpa/E. Krafczyk

Schwule lassen "es mit sich machen"; daran entzündet sich der Hass. "Sie verraten die ganze Innung", drückt Dannecker es aus. Zudem werde der soziale Abstieg, den viele Menschen erleiden mussten, als Potenzverlust erlebt.

"Negative Aufklärung"

Nicht nur in der homophoben Welle nach dem Jahr 2000, auch in der Geschichte des Umgangs mit Homosexualität macht Dannecker zwischen Ost und West einen Unterschied aus. Im Westen, namentlich in England und Deutschland, habe nach einer langen Phase der Problematisierung eine Art "negative Aufklärung" stattgefunden.

Statt sie einfach weiter als Sünde zu verdammen, habe man über lange Zeit versucht, Homosexualität zu psychopathologisieren, als seelische Verirrung oder als Neurose zu deuten. Man wollte, ganz westlich, "Gründe" finden, warum einer homosexuell war. "Man fand aber nichts", so Dannecker. Als letzter Ausweg blieb nur noch die Akzeptanz.

Schwule als häretische Teufelsikonen

Im Osten dagegen, besonders in Russland, wo in orthodoxer Tradition die Handlung vor der "inneren Motivation" rangiert, ging es nicht um das, was einer fühlte, sondern um das, was einer tat. Umso aggressiver reagierten weite Teile der Öffentlichkeit auf das demonstrative, exhibitionistische, belehrende Element in der Bewegung für LGBT-Rechte.

Selbst der Soziologe Igor Kon, verdienstvoller Kämpfer für die Anerkennung von Homosexuellen in Russland, ließ angesichts der Paraden Irritation erkennen: "Einige fühlten sich an studentische Propagandatrupps aus der früheren Sowjetunion erinnert, die Kolchosarbeiter das Ernten lehren sollten." Toleranz wurde zum Lehrstoff, und die Schwulen wurden, ganz wie auf den westlichen Paraden, zu Ikonen - zu häretischen Teufelsikonen allerdings. Für ihre künftige Akzeptanz stimmt das nicht hoffnungsvoll.

Norbert Mappes-Niediek arbeitet seit 30 Jahren als Südosteuropa-Korrespondent für deutsche Medien. Sein neues Buch "Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht" (304 Seiten, 22 Euro) erscheint am 15. Februar 2021 beim Christoph Links Verlag, Berlin.

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