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Politik

Wir sind Opfer - nicht George Floyd

Ivaylo Ditchev
13. Juni 2020

In Südosteuropa demonstrieren in diesen Tagen nur wenige Menschen gegen Rassismus. Viele Bewohner des Balkan sehen sich selbst als Märtyrer und haben ein Problem mit historischen Wahrheiten, meint Ivaylo Ditchev

Bulgarien Black Live Matter Proteste in Sofia
Weniger als zweihundert Jugendliche kamen zur "Black Lives Matter"-Demonstration in der bulgarischen Hauptstadt SofiaBild: picture-alliance/AA

Der gewaltsame Tod des schwarzen US-Bürgers George Floyd hat eine weltweite Welle der Solidarität mit diskriminierten Minderheiten ausgelöst - und das bei weitem nicht nur in Amerika. In Frankreich wurden Übergriffe der Polizei thematisiert, in Israel das Schicksal der Palästinenser, in Australien das der Aborigines. In Deutschland wurde über Afrodeutsche sowie Migranten aus Rumänien und Syrien gesprochen. Im englischen Bristol warfen Demonstranten die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Meer. Es scheint, als hätte sich die Welt tiefgreifend verändert. Und viele glauben: zum Besseren.

Ein Teil Europas aber zeigte kaum Solidarität: der Balkan. Während anderswo Tausende für Menschenrechte marschierten, waren es in der bulgarischen Hauptstadt Sofia weniger als 200 Jugendliche, darunter LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten sowie Anhänger antifaschistischer und westlich geprägter linker Gruppen. Wenn ich es richtig sehe, ging die Initiative zu der Demonstration von Amerikanern aus, die in Bulgarien leben.

Was haben Bulgarien und die USA gemein?

Zu kommunistischen Zeiten war ein Witz beliebt: Was haben Bulgarien und die USA gemein? Man darf frei gegen die Diskriminierung der Schwarzen demonstrieren. Die Transparente in Sofia belegen immerhin, dass diese Zeiten vorbei sind: Anstatt sich gegen die Polizei von Minneapolis zu richten, konzentrierten sich die Protestierenden auf die Diskriminierung der Roma in Bulgarien; die Veranstaltung wurde durch die Rede eines Roma-Journalisten eröffnet.

In der rumänischen Hauptstadt Bukarest organisierten Jugendliche Ähnliches, im ehemaligen Jugoslawien und in der Türkei kam es sporadisch zu kleinen Solidaritätsaktionen. Die einzige Ausnahme unter den Balkanländern war Griechenland, wo Ereignisse wie der Tod von George Floyd jedes Mal die extreme Linke auf den Plan rufen und in gewalttätigen Straßenkämpfen mit anti-amerikanischer Ausrichtung enden. Die Existenz dieser radikalen Linken scheint ein Zeichen für die fortgeschrittene Euro-Integration des Landes zu sein.

Anhänger der kommunistischen Partei protestieren in der griechischen Hauptstadt Athen gegen Polizeigewalt in den USABild: Reuters/A. Konstantinidis

Kritik und Misstrauen

Die Demonstrationen in den Balkanländern waren nicht nur spärlich besucht, sondern stießen in der Mehrheitsbevölkerung auch auf eine Mischung aus Kritik und Misstrauen. Teilweise wurde George Soros für die Proteste verantwortlich gemacht.

Einerseits scheint in Südosteuropa niemand zu glauben, dass Afroamerikaner im reichsten Land der Welt ein Problem haben könnten. Ihre Forderungen nach Gleichheit vor dem Gesetz werden als Laune betrachtet, als Verschwörung der Demokraten, Ausdruck des Anarchismus und "kulturellen Marxismus" gesehen. In Sofia organisierte die US-Botschaft eine merkwürdige alternative Kundgebung, bei der Slogans zu lesen waren wie "Stoppt den Terror der Schwarzen" und "Unterstützt Trump!" (Die Teilnehmer waren wohl Pro-Putin-Nationalisten).

Alltagsszene in Stolipinovo, einem vor allem von Roma bewohnten Viertel der bugarischen Stadt PlovdivBild: DW/W. Bojilova

Privilegierte Roma?

Anderseits wird die Diskriminierung von Minderheiten in den eigenen Ländern von der Mehrheit der Balkanier bestritten. Roma gelten im Gegenteil als privilegiert - es heißt, sie profitierten von ausländischen Hilfen und die Polizei würde sie besonders gut behandeln.

Tatsächlich ist ein wichtiger Aspekt der balkanischen Identität heute die Überzeugung, dass die wahren Opfer nicht arme und unterdrückte Menschen irgendwo auf der Welt sind - sondern die Balkanbewohner selbst. Dazu passt, dass viele südosteuropäische Länder die Zeit des osmanischen Reichs (1299-1922) als "türkische Sklaverei" bezeichnen - auch wenn diese Form der Knechtschaft in Wirklichkeit ein Randphänomen war.

DW-Kolumnist Ivaylo DitchevBild: BGNES

Sprechen verboten

Die historische Wahrheit ist auf dem Balkan von untergeordneter Bedeutung. Ziel ist es, sich als Märtyrer zu präsentieren - und eine Ausrede dafür zu haben, anderen das Mitgefühl zu verweigern. Wir, nicht US-Amerikaner wie der getötete Schwarze George Floyd, sind Opfer geopolitischer Mächte, des Kommunismus, der EU-Vorschriften und so weiter.

Das Fehlen von Debatten über Rassismus ist ein ernstes Problem der südosteuropäischen Gesellschaften. Wie im Witz aus dem Kommunismus tut man so, als sei Rassismus etwas Amerikanisches, das hier niemanden angehe. Dabei gab es vor dem Ende des Staatssozialismus 1989/90 in Bulgarien und anderswo auf dem Balkan natürlich erniedrigende rassistische Praktiken, wie überall auf der Welt; aber es war absolut verboten, darüber zu sprechen. Deswegen konnten die meisten Balkan-Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die schmerzhaften Debatten durchlaufen, die im Westen geführt wurden; und sich auch nicht der Notwendigkeit entsprechender politischer Maßnahmen bewusst werden.

Auf dem Schipka-Pass fand 1878 die entscheidende Schlachte zur Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft stattBild: picture-alliance/dpa/M. Tödt

Nation gegen Nation

Aus Balkan-Sicht gibt es Gruppen, die gegeneinander kämpfen - und der Einzelne soll dabei sein Team unterstützen. Serben unterdrücken Albaner, die sich dann rächen; Türken "versklaven" Bulgaren, dann haben die Bulgaren Oberwasser; Orthodoxe wehren sich gegen Muslime, Katholiken gegen Orthodoxe…

Rassismus ist aber kein politischer Kampf zwischen Nationen. Es handelt sich um eine tiefe kulturelle Tendenz, die dazu führt, dass ganze Gruppen von Menschen systematisch schlechter behandelt werden als andere. Roma sind das traurigste Beispiel - aber auch Migranten in Ländern wie Griechenland und der Türkei, sexuelle und Gender-Minderheiten überall. Rassismus ist, wenn dein Name, deine Herkunft, deine Hautfarbe oder dein Körper dazu führen, dass du als minderwertig angesehen wirst. Wenn sie dich nicht in den Pool lassen, weil du angeblich schmutzig bist, wenn nicht gar ansteckend.

"Ich will nicht in einem Zigeunerland leben" steht auf den T-Shirts dieser bulgarischen RechtsextremenBild: AP

Argumente der extremen Rechten

Die extreme Rechte behauptet, sie wolle nur Gleichheit. Minderheiten sollten dem Gesetz gehorchen - wie alle Anderen. Sie argumentieren damit, dass Roma-Siedlungen auf dem Balkan ähnlich wie die afroamerikanischen Viertel in den USA höhere Kriminalitätsraten aufweisen. Aber ist solch ein statistisches Argument Grund genug, jemanden zu verhaften, der nur wegen der Farbe seines Gesichts verdächtig ist?

Stellen Sie sich vor, ein Bulgare und ein Este bewerben sich um eine Stelle in Deutschland. Der Arbeitgeber sagt: "Sie, die Bulgaren, stehen im Pisa-Bildungsranking ganz unten. Ich werde daher gar nicht erst versuchen, Sie zu testen, sondern den Esten nehmen, weil sein Land bei Pisa an der Spitze steht." Wäre das gerecht? Der Bulgare könnte klüger und besser ausgebildet sein als der Este - trotz aller Statistiken. Ein anderes Beispiel: Wir wissen, dass 90 Prozent aller Gewaltverbrechen von jungen Männern begangen werden. Sollten Polizisten deshalb jeden jungen Mann festnehmen, den sie nach 22 Uhr sehen?

Denkmal für den USA-Mitgründer und späteren US-Präsidenten Thomas Jefferson in Washington DC Bild: James Steidl/Fotolia

Absurde Klagen

Von Thomas Jefferson stammt der berühmte Satz: "Es gibt nichts Ungleicheres als die Gleichbehandlung ungleicher Menschen." Wenn eine Gesellschaft benachteiligte Bürgerinnen und Bürger integrieren will, muss sie Chancengleichheit fördern. Der neue Rassismus hat eine neue Ideologie des Formalismus entwickelt, die Gleichheit vor dem Gesetz wird mit Gleichheit an sich gleichsetzt: die Gleichheit der im Palast Geborenen mit denen, die aus Hütten stammen. In Bulgarien und Rumänien kam es zu absurden Klagen gegen den Staat - wegen Diskriminierung der Mehrheit durch politische Maßnahmen gegen die Diskriminierung der Roma-Minderheit.

Die weltweite anti-rassistische Solidarität nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd sollte den Balkanstaaten signalisieren, dass in ihrem Inneren eine Zeitbombe tickt. Rassismus untergräbt den Zusammenhalt gerade in Ländern, die ihre Nationenbildung nicht wirklich abgeschlossen haben. Nicht umsonst kam es in den vergangenen Jahren auf dem Balkan oft schon wegen Kleinigkeiten zu Gewaltausbrüchen.

Rassismus marginalisiert Südosteuropa aber auch in der globalen Welt, indem er bereits in der Region verbreitete Vorurteile gegenüber ausländischen Arbeitern, Investoren, Experten und sogar Touristen fördert. Wer behauptet, auf dem Balkan habe man im Gegensatz zum Westen keine koloniale Vergangenheit und daher auch kein Rassismusproblem, steckt den Kopf in den Sand: Rassismus auf dem Balkan zu negieren ist brandgefährlich. Es muss endlich darüber diskutiert werden, was dagegen zu tun ist.

Ivaylo Ditchev ist Professor für Kulturanthropologie an der Universität Sofia in Bulgarien. Er hat unter anderem in Deutschland, Frankreich und den USA gelehrt.

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