"Mein Klassiker": die Lieblingsbücher der Kulturredaktion
7. Dezember 2016Ricarda Otte (Redakteurin)
Thomas Mann: "Buddenbrooks" (1901)
Nur wenige haben das Glück, mit einem Literaturnobelpreisträger den Geburtsort zu teilen. Ich komme aus Lübeck - wie Thomas Mann. Die Hansestadt, in der er seinen ersten Roman "Buddenbrooks: Verfall einer Familie" spielen lässt, ist bis heute stattlich, charmant und für mich der Inbegriff von nordisch-nobel. Hinter den hübschen Fassaden inszeniert Thomas Mann diesen teils selbst, teils fremd verschuldeten Niedergang einer angesehenen Kaufmannsfamilie. Und dem auf vielen hundert Seiten beizuwohnen, erfüllt mich mit einem schönen Schauder - zumal ich die Straßen kenne, die Schulen und Kirchen. Wie fatal kann doch die Verkettung falscher Entscheidungen - geschäftlicher und emotionaler Natur - sein! Das ist tragisch, verstörend und sehr unterhaltsam!
Aygül Cizmecioglu (Autorin)
Wolfram von Eschenbach: "Parzival" (ca. 1200)
Eigentlich sind Lieblingsbücher wie kuschelige Wolldecken. Sie geben uns das Gefühl von Vertrautheit. Ich kämpfe seit 20 Jahren mit "Parzival". Meine erste Begegnung mit ihm war in einem stickigen Seminarraum an der Uni. Über 800 Seiten, ein mittelhochdeutscher Versroman. Mehr Pflicht als Kür! Doch dann tauchten wir mit sehr viel Rotwein am WG-Tisch ein in dieses gigantische Abenteuer. Es ging um gescheckte Ritter, höfische Amazonen und gebrochene Helden voller Schuld. Nichts an diesem Buch hält Maß. Es gibt von allem zu viel - Wut, Erzählstränge, Fragen. Man verirrt sich in seinem Labyrinth - aber so klug, dass man nie wieder raus möchte.
Rainer Traube (Leiter Kultur.21-Magazin)
Theodor Fontane: "Frau Jenny Treibel" (1892)
Ich war Schüler im Schwarzwald, in Bonn regierte Helmut Schmidt, und im Radio lief Barry White, als ich in den 1970ern Fontanes Gesellschaftsromane entdeckte. Meine erste Bekanntschaft im Lichtjahre entfernten Berlin wurde "Jenny Treibel". Durch Heirat mit einem Farbenfabrikanten (Berliner Blau!) hat sie es aus kleinen Verhältnissen zur Frau Kommerzienrat gebracht. Wir schreiben das Jahr 1888, die Reichshauptstadt platzt vor Zukunftsglauben und die Treibels vor Dünkel. Jetzt müssen nur noch standesgemäße Partien für die Kinder her. Mit liebevoller Ironie führte Preußens großer Chronist Fontane mich durch die verlogen-sentimentale Welt der Gründerzeit. Jane Austen in Berliner Blau.
Louise Osborne (englische Übersetzerin)
Hans Fallada: "Jeder stirbt für sich allein" (1947)
Für mich war dieses Buch eine Premiere. Erstmals las ich einen deutschen Autor. Und das anfangs auch nur, weil Falladas Roman in Berlin spielt. Ich war kurz zuvor in die deutsche Hauptstadt gezogen. Dann entdeckte ich die wahre Geschichte hinter den Buchdeckeln. Die Geschichte eines Ehepaares aus dem Arbeitermilieu. Sie verlieren ihren einzigen Sohn im Krieg und beginnen ihren leisen Widerstand gegen die Nazis. Fallada zeigt ihre Angst, ihre Zweifel. Er nimmt aber auch die Perspektive der anderen ein - erzählt aus der Sicht von denunzierenden Nachbarn und parteitreuen Mitläufern. Ich lernte eine andere Seite des Zweiten Weltkrieges kennen. Eine, die nicht nur gut und böse kennt. Und ich mochte seine stillen Helden ohne Heiligenschein.
Sabine Peschel (Redakteurin Online)
Friedrich Schlegel: "Lucinde" (1799)
Es fasst sich gut an, das schmale goldene Buch mit dem im Art-déco-Stil gestalteten Einband. Wenn ich es in die Hand nehme, schlägt mein Herz ein bisschen schneller, jünger. Denn es erinnert sich an die Wucht der Gefühle, die in der "Wut seiner Liebe und seiner Sinne" ein Echo fanden. Julius’ schwärmerische Reflexionen über Lucinde und das Wesen der Frauen berühren mich heute noch wie zu Zeiten meines geistesbewegten Studiums in Tübingen. Die Briefe, Aphorismen und inneren Monologe dieser leidenschaftlichen Hauptfigur sprechen von Liebe und Verlust, von Sehnsucht und Ruhe, Kreativität und Schönheit - die wechselnden Formen entsprachen dabei Schlegels frühromantischem Konzept für den idealen Roman. Stilistisch schwülstig, aber schon 1799 ungeheuer modern.
Ulrike Sommer (Autorin)
Erich Kästner: "Das fliegende Klassenzimmer" (1933)
Er hieß Matz, hatte immer Hunger und war so imposant, dass sich der schmächtige Uli hinter ihm verstecken konnte. Das war er, der große Bruder, den ich immer haben wollte. Der einen bei Prügeleien beschützt und durch Mutproben führt. In keinem anderen Buch fühlte ich mich als Kind so aufgehoben, so ernst genommen wie in "Das fliegende Klassenzimmer". "Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch", schrieb Kästner. Und diese Überzeugung spürt man auf jeder Seite. Ein Roman über Freundschaft und Zivilcourage. Veröffentlicht 1933 - in dem Jahr, in dem die Nazis Kästners Bücher verbrannten.
Rolf Rische (Kulturchef)
Walter Kempowski: "Tadellöser & Wolff" (1971)
Der Roman findet sich erst nach einigem Suchen im Keller, doch der Stoff ist auch nach Jahrzehnten präsent. Die Jugend Kempowskis zwischen 1938 und 1945 in Rostock. Eine "normale" Familie. Naivität gegenüber den Nazis, Beklemmung angesichts brennender Synagogen, Probleme in der Hitlerjugend. Vater muss zur Wehrmacht, der dänische Freund zum Gestapo-Verhör. Ein politisches Buch aus unpolitischer Perspektive. Gelesen habe ich es mit 16. Einer von neun Bänden der "Deutschen Chronik". Das Werk ist riesig und unterhaltsam. Bis heute beeindruckt mich der Stil. Sanfte Ironie, indirekte Rede, Passivkonstruktionen. Klingt nicht nach Lesespaß, funktioniert aber "tadellos". Deutsche Geschichte, faszinierend für einen 16-Jährigen mit Vorliebe für Suzi Quatro. Epochal!
Andrea Horakh (Autorin)
Jacob und Wilhelm Grimm: "Märchen - Hans im Glück" (1812 bis 1858)
Früher Abend. Unter der Kinderdecke ist es warm zu zweit. Meine Tochter Tessa und ich. Vorlese- und Märchenzeit. Unser Klassiker: Hans im Glück. Uralt, weise! Einmal nicht Raub, Totschlag und verstoßene Kinder, sondern die Geschichte von einem, der auszieht und das Glück findet. Hans bekommt nach sieben Jahren harter Arbeit einen Klumpen Gold als Lohn. Er tauscht ihn ein gegen ein Pferd. Den lahmen Gaul gegen eine Kuh. Die Kuh, die keine Milch gibt, gegen ein Schwein. Das Schwein für eine Gans. Die Gans für einen schweren Schleifstein. Jeder Tausch ein Betrug. Jeder Tausch ein Verlust. Jedes Mal will man schreien: Mach es nicht! Am Ende erreicht er seine Heimat mit leeren Händen und ruft: "So glücklich wie ich, gibt es keinen Menschen unter der Sonne!" So geht Glück! Tessa schläft.
Sabine Kieselbach (Redakteurin)
Alfred Döblin: "Berlin Alexanderplatz" (1929)
1987 zog ich als Literaturstudentin nach West-Berlin. Die Mauer sollte erst zwei Jahre später fallen. Berlin war damals eine graue und kaputte Stadt. Als mein Freund, ein US-Amerikaner, mich besuchte, wollte er unbedingt zum Alexanderplatz im Ostteil der Stadt. Er kannte Döblins Roman nicht, aber er liebte die Verfilmung von Rainer W. Fassbinder. Klar, dass ich vorher die literarische Vorlage las, die 1929 veröffentlicht wurde und bis heute ein unglaublich modernes Buch ist. Vielleicht das einzige, dessen Hauptfigur die Stadt selbst ist. Expressiv in Form und Sprache, hochpolitisch in der Analyse. Für mich bis heute der beste Berlin-Roman!
Manuela Feria Pérez (spanische Redakteurin)
Max Frisch: "Montauk" (1975)
Der blaue Band drängt sich nicht auf, wartet geduldig im Regal, ungelesen… und zwar jahrelang. Alles fängt in Berlin-Friedenau an. Gasteltern schenken einer jungen Studentin ein Buch mit einem seltsamen Titel. Auf den ersten Blick eine uninteressante Geschichte: die Liebes- und Lebensbilanz eines alternden Mannes. Das blaue Büchlein macht dann vieles mit - es übersteht Umzüge, kommt nach Madrid und kehrt wieder nach Berlin zurück. Nach mehr als 20 Jahren bekommt es endlich eine Chance... und verfehlt seine Wirkung nicht. Es ist eine wunderbare melancholische Geschichte, ein Bekenntnis, das einen nicht loslässt.