Beuys' Talg Therapie
3. April 2007Im 19. Jahrhundert hielten hier die Züge der Strecke Hamburg - Berlin; heute ist der ehemalige Endbahnhof Berlins "Museum für Gegenwart". Im "Hamburger Bahnhof" begegnete Thomas Schnalke, selber Chef des Medizinhistorischen Museums der Charité, einem monumentalen Werk, das erst einmal wie ein Schock auf ihn wirkte. Es erinnerte ihn an Gemäuer, das in sich zusammengestürzt war. "Gleichzeitig sehe ich, dieses Gemäuer hat so einen warmen Grundton, so ein ins Ocker gehende Gelb, das hat mich an den menschlichen Körper, an die Haut erinnert. Ein schockierendes Zusammenspiel von Eindrücken."
Wie ranzige Eisberge treiben Fettblöcke durchs Museum. In Form gegossen hat sie Joseph Beuys - einer der radikalsten Künstler des 20. Jahrhunderts, verehrt und umstritten zugleich. Wie viele Menschen, deren soliden Kunstbegriff er ins Wanken brachte, hat sich der Medizin-Historiker mächtig an Beuys gerieben. "Zu gewissen Zeiten habe ich auch gesagt, das ist keine Kunst, das kann doch jeder - ein bisschen kritzeln, ein bisschen Fett in ein Ecke schmieren!"
Fett faszinierte Beuys - weil es in flüssiger und fester Form existiert. Weil es weich ist - und einen organischen Ursprung hat. Ein hochsymbolischer Stoff. Auch für Thomas Schnalke ist Fett bedeutsam, als Energieträger für den menschlichen Körper, "das wärmende Prinzip schlechthin", oder in der Medizin als hervorragender Arzneimittelträger.
Joseph Beuys gilt als der Schamane unter den Künstlern. Für ihn war die Kunst ein Heilmittel. "Unschlitt" entstand 1977 in Münster. Der Patient war eine architektonische Wunde. Die Therapie: Fett, hochdosiert, genauer gesagt, 20 Tonnen davon.
"Fett. Ein bisschen Fett. Mit ein bisschen Fett geht alles", behauptete Beuys, und baute den toten Raum unter einer Fußgängerüberführung nach, goss die entstandene Form mit Rindertalg aus und segmentierte ihn. Thomas Schnalke erinnert das an medizinische Techniken, an das Abformen eines pathologischen Zustands. Auch in der Medizin wird versucht, den Körper nachzubilden indem man ihn abformt. Beispielsweise hat man von Hautpartien kranker Menschen Gipsnegative genommen und diese mit Wachs ausgegossen, um damit letztendlich eine individuelle Krankheit darzustellen, berichtet der Arzt. "Das hat eine gewisse Parallelität."
Mit wärmendem Fett wollte Beuys tote Architektur wiederbeleben. Heute zeigt "Unschlitt" die Spuren biologischer Alterung. Thomas Schnalke findet es geradezu genial, dass Beuys für seine sozialen Plastiken eben keinen Marmor oder andere annähernd unverwüstliche Materialien wie Metalle nahm, sondern auf organische Substanzen zurückgriff. "Die Gesellschaft ist ja nichts Statisches, nichts Festgefügtes. Diese Nähe zum Körper, dem, was ich bin, was ich bei anderen sehe, das hat mich gereizt."
Beuys' Talg-Therapie: Im Museum Hamburger Bahnhof Berlin.