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Meine Nobelwoche mit Günter Grass

Stefan Dege14. April 2015

Im Dezember 1999 blickte ganz Deutschland gespannt nach Stockholm, wo Günter Grass den Literatur-Nobelpreis erhielt. Eine große Sache, nicht nur für den streitbaren Schriftsteller. Stefan Dege erinnert sich.

Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1999 an Günter Grass
Bild: picture-alliance/dpa

Stockholm liegt im eisigen Dezembernebel. Die Schaufenster der Geschäfte sind vorweihnachtlich geschmückt. Windlichter erleuchten die Altstadt-Gassen. Grass ist auf Gratulationstour durch Schwedens Hauptstadt. Unentwegt wird der Preisträger herumgereicht - von Empfang zu Lesung, von Diskussion zu Vortragsveranstaltung. Die Nobelwoche gleicht einer Karwoche, in deren Verlauf Grass aus den Niederungen des Literaturbetriebs als frischgebackener Nobelpreisträger aufersteht. Als Radioreporter hefte ich mich an die Fersen des Preisträgers.

Kleine Feierstunde im Stockholmer Goethe-Institut. 200 geladene Gäste. Deutschlands Botschafter Helmut Ackermann tritt ans Mikrofon: "Ich freue mich über die Ehrung eines deutschen Dichters. Die Nobelstiftung hat zum Abschluss des Jahrhunderts einen würdigen Preisträger gefunden." Ackermann trifft ins Schwarze und nimmt damit vorweg, was Horace Engdahl, der Sekretär der Schwedischen Akademie, tags darauf in seiner Laudatio sagen wird: Grass habe mit seiner literarischen Arbeit den "bösen Bann gebrochen, der über Deutschlands Vergangenheit lastete". Mehr noch: "Der Roman 'Die Blechtrommel' bedeutet die Wiedergeburt des deutschen Romans im 20. Jahrhundert."

DW-Reporter Stefan DegeBild: DW/K. Dahmann

Der Botschafter beim Trachtenfest

Grass legt die Pfeife beiseite. Er steht auf, richtet seinen Blick auf die Zuhörer und erwidert dann die Rede des Botschafters. Aus seinen Worten spricht der Trotz des lange Geschmähten: "Ich bin ein wenig gerührt", sagt der 72jährige ironisch und rechnet vor: "Seit 1961 bin ich freiberuflicher Mitarbeiter des Goethe-Instituts. Dies ist die erste Veranstaltung, in der der deutsche Botschafter nicht nur anwesend ist, sondern sogar eine Rede gehalten hat." Er erinnert an Besuche in Städten, in denen der Botschafter demonstrativ fern geblieben sei, wenn er, Grass, mit dem Goethe-Institut zusammengearbeitet habe: "Oder er musste zu irgendeinem Trachtenfest gehen." Mein Mikrofon hält in diesem Moment zweierlei fest: Grass' Worte - und das Gelächter im Publikum.

Peinlich berührt reagieren die deutschen, amüsiert die schwedischen Gäste der Feierstunde. An mangelndem Appetit wird es kaum gelegen haben, dass Grass die Einladung zu einem offiziellen Abendessen mit dem Botschafter, dem Vertreter des offiziellen Deutschland, ausschlug. "Es ging sogar so weit", erzählt Grass mir im Interview, "dass bei einer Diskussion mit Stefan Heym in Brüssel über die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes im Parkett saß." - Der notierte fleißig. Ein Dossier aus kritischen Worten gegenüber der BRD sei danach auf dem Schreibtisch von Franz-Josef Strauß gelandet. "Im Bundestag wollte der dann wissen, wie es kommt, dass dieser 'Nestbeschmutzer' in Diensten des Goethe-Instituts steht!" In den 1960er Jahren war das. Der schnauzbärtige Literat grantelt in mein Mikrofon. Mein Reporter-Stolz könnte nicht größer sein.

Der Nobelpreisträger Günter GrassBild: AP

Rolle als moralische Instanz

Dann gibt Grass den politischen Schriftsteller, als den ihn das Ausland so schätzt. Zur schwedischen Debatte über Neonazis sagt er: "Wir haben diese Debatte in Deutschland mit Leidenschaft und bis zur Erschöpfung geführt." Grass hebt warnend den Zeigefinger: "Den Holocaust sollte man nicht ausschließlich im Hinblick auf die jüdischen Ermordeten diskutieren." Dies führe zu einer Selektierung der Opfer und setze - gegen alle gute Absicht - die Praxis des Selektierens fort. Dieser Fehler sei in Deutschland gemacht worden. Spätestens jetzt leuchtet ein, warum der Nobelpreisträger die Hälfte der Preissumme von 1,8 Millionen Mark für Sinti und Roma stiftete. Was ich da noch nicht ahne - der Literat macht es erst im August 2006 bekannt: Mit 17 Jahren hat Günter Grass der Waffen-SS angehört. Seine Rolle als moralische Instanz im Nachkriegsdeutschland gerät zeitweise ins Wanken.

Die Schwedische Akademie in StockholmBild: Tupungato/Fotolia

Drei Tage dauert meine Nobelwoche mit Günter Grass. Vor dem Rückflug ist da noch der strahlende Höhepunkt - die Verleihung des Literatur-Nobelpreises in der Königlich Schwedischen Akademie. Grass ist mit Ehefrau Ute, acht Kindern und drei seiner 14 Enkelkinder angereist. Für die Zeremonie hat er sich, wie er aller Welt versichert, den ersten Smoking seines Lebens zugelegt. Die teils kritische Berichterstattung in deutschen Zeitungen zu seinen Auftritten bei der Stockholmer Nobelwoche kommentiert Grass kurz vor der Verleihung: "Warum kann man sich in Deutschland nicht einfach freuen?" Ja, Warum eigentlich nicht?

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