Wie erinnern sich Migranten in Deutschland an den Holocaust?
9. November 2013 Im Ausland gilt die deutsche Erinnerungskultur als Musterbeispiel für eine gelungene historische Aufarbeitung. Doch die Zeitzeugen sterben. Und Kritiker bemerken polemisch, das ganze Land drohe zu einem einzigen Mahnmal zu werden. Gibt es nur eine adäquate Art, dem Holocaust zu gedenken oder ist Erinnerung ein dynamischer Prozess, der sich an eine wandelnde Gesellschaft anpassen muss?
Deutschland ist längst zu einem Einwanderungsland geworden. Hier leben rund 16 Millionen Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund - türkische Gastarbeiter der ersten Generation, russische Spätaussiedler, junge Europäer, die im Zuge der Finanzkrise nach Deutschland auswandern. Doch welche Rolle spielt die Erinnerung an die Shoah in ihrem Leben? Ist der Holocaust auch ein Teil ihrer Geschichte oder herrscht in puncto Erinnerung ein "Integrationsbruch" in Deutschland. Wir haben einige von ihnen befragt.
Cemal, Schneider, 60 Jahre alt
"Ich komme ursprünglich aus Anatolien. Jetzt lebe ich schon seit 27 Jahren hier in Deutschland. Der Genozid an den Juden ist ein Schandfleck in der deutschen Geschichte. Aber dieses Land hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Deutschland hat sehr strenge Gesetze gegen Diskriminierung. Aber letztendlich ist das nicht meine Geschichte. Das hat auch etwas damit zu tun, dass ich mich hier nicht wirklich als Deutscher akzeptiert fühle. Ich habe zwar einen deutschen Pass, aber ich werde immer noch als Ausländer wahrgenommen und werde es wohl auch immer bleiben."
Stella, Schülerin, 12 Jahre alt
"Meine Mutter ist aus Deutschland und mein Vater kommt aus Jamaika. Aber ich bin in Berlin geboren. Ich gehe jetzt in der 7. Klasse und wir haben das Thema bis jetzt noch nicht im Unterricht behandelt. Ich glaube schon, dass es wichtig ist, sich darüber zu informieren. Es ist ja auch noch nicht so lange her und so etwas kann jederzeit wieder passieren. Wir haben auf jeden Fall eine Verantwortung zu tragen. Meine Eltern reden schon mal darüber. Aber meine Großeltern eher nicht, auch nicht mit mir."
Frédéric, Verkäufer, 44 Jahre alt
"Ich bin Franzose und ich lebe seit drei Jahren in Berlin. Die Erinnerung an die Shoah ist total wichtig. Und ich muss sagen, dass in Deutschland diese Erinnerung hoch gehalten wird. In Frankreich müssen wir dagegen noch daran arbeiten. Dabei hatten auch die Juden in Frankreich während des Krieges eine ziemlich schwere Zeit. Aber wir haben leider ein wenig zu schnell vergessen."
Meltem und Eda, Abiturientinnen, 18 Jahre alt
"Unsere Eltern kommen aus der Türkei, aber wir sind hier in Berlin geboren. Dass damals so viele Juden umgebracht worden sind, ist schrecklich. Aber man muss nicht permanent daran erinnern. Wichtig ist es heute, Respekt und Toleranz zu zeigen - egal woher ein Mensch auch immer kommt oder woran er auch immer glaubt. Wir sind zum Beispiel genervt von den Vorurteilen über Muslime, dass man uns grundsätzlich für antisemitisch hält. Dabei wird Toleranz in unserer Religion groß geschrieben."
Dorence, Zeitungsverkäufer, 41 Jahre alt
"Ich komme aus Kamerun und lebe seit elf Jahren in Deutschland. Von der Ermordung der Juden in Europa habe ich erst hier erfahren. So etwas Schlimmes darf nicht nochmal passieren. Aber man muss auch versuchen, in die Zukunft zu blicken."
Inga, Angestellte, 32 Jahre alt
"Ich bin Jüdin und wurde in der Ukraine geboren. Vor 20 Jahren bin ich dann mit meiner Familie nach Berlin ausgewandert. Mein Großvater war im Krieg, seine Familie wurde fast komplett ermordet, weil sie Juden waren. Meiner Meinung nach wird viel zu wenig erinnert - an den Nationalsozialismus, an die Vernichtung. Für mich persönlich ist es wichtig, auch im Sinne meiner Großeltern, dass das nicht vergessen wird. Das ist ja auch irgendwie eine Warnung, nicht nur eine Erinnerung. Ich finde es aber auch nicht in Ordnung, wenn die Deutschen ihr ganzes Leben lang mit einem schlechten Gewissen rumrennen müssen. Das ist Quatsch."
Yasser, Kneipenbesitzer, 38 Jahre alt
"Ich bin in Kairo geboren und lebe seit 1987 in Deutschland. Damals kam ich zum Studieren nach Stralsund, in die ehemalige DDR. Natürlich bin ich froh, die Zeit des Nationalsozialismus nicht in Deutschland miterlebt zu haben. Wenn man heute hier lebt, hat man immer irgendwie mit dieser Geschichte zu tun. Aber es ist nicht meine Geschichte. Ich glaube diese Vergangenheit ist mit ein Grund, warum Patriotismus in Deutschland immer mit einem schlechten Gewissen verbunden ist. Nationalstolz ist in Ägypten etwas ganz normales. Aber wenn hier jemand ein Deutschland-T-Shirt trägt, denkt man: Oh Gott, was hat der denn für ein Problem? Das ist auf jeden Fall das Erbe der deutschen Geschichte."
Indira, Bankkauffrau, 29 Jahre alt
"Ich bin seit 1994 in Deutschland, komme aber ursprünglich aus Bosnien, um genau zu sein aus Srebrenica. In der Schule war der Holocaust immer ein Thema. Aber heute gibt es andere Sachen, die mir wichtiger sind, zum Beispiel das, was gerade in Syrien los ist. Über den Zweiten Weltkrieg rede ich kaum noch."
Yuval, Feinkosthändler, 53 Jahre alt
"Ich lebe als Israeli seit 24 Jahren in Deutschland. Und es hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Die Reichspogromnacht, der Zweite Weltkrieg, die Vernichtung der Juden - das alles ist hier sehr präsent. Es gibt in deutschen Zeitungen viele Artikel dazu. Es werden Bücher darüber geschrieben, Ausstellungen zu dem Thema gemacht. Aber was soll ich sagen - man muss als orthodoxer Jude immer noch vorsichtig sein. Es gibt leider immer noch Antisemitismus in Deutschland. Man wird als Jude beschimpft, unsere Geschäfte werden bespuckt und mit Dreck beworfen. Deswegen möchte ich auch nicht, dass man mich auf diesem Foto erkennt. Die Geschichte ist also längst nicht zu Ende - leider!"