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Politik

Anne Frank, Sophie Scholl und die Corona-Leugner

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno
23. November 2020

Wenn sich COVID-Leugner als Opfer vorgeblicher Nazi-Methoden stilisieren, geht es um Deutungshoheit. Deswegen ist es wichtig, sich solchem Unsinn entgegenzustellen, meint Martin Muno.

Bild: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Vergangene Woche bezeichneten mehrere Politiker der rechtspopulistischen AfD das neue Infektionsschutzgesetz der Bundesregierung als "Ermächtigungsgesetz". Zur Erinnerung: Mit jenem Gesetz erlangte die von Adolf Hitler geführte Regierung im März 1933 das Recht, Gesetze ohne Zustimmung des deutschen Reichstags zu erlassen. Die AfD verglich also Regelungen, die Kontaktbeschränkungen zum Schutz vor einer Pandemie vorsehen, allen Ernstes mit einem Gesetz, das für das Ende der parlamentarischen Demokratie und den Beginn der Nazi-Gewaltherrschaft steht.

Was von Geschichts- und Politikwissenschaftlern unisono als ahistorischer Schwachsinn verurteilt wurde, wirkte auf die Corona-Gegner als Motivationsschub: Am vergangenen Wochenende gingen sie in mehreren deutschen Städten auf die Straße, um gegen die angebliche Machtergreifung zu demonstrieren. Dabei verglichen sich Rednerinnen wahlweise mit Anne Frank (ein 11-jähriges Mädchen in Karlsruhe)  oder Sophie Scholl (eine 22-Jährige in Kassel); die bizarren Auftritte stießen auf ein weltweites Medieninteresse.

Die Machtlosen üben Macht aus

Dass es einen Unterschied ergibt, ob man wegen möglicher Verstöße gegen die Corona-Schutzverordnungen zu einer Geldbuße verurteilt wird (und dagegen den Rechtsweg beschreiten kann), oder ob man aufgrund seiner jüdischen Herkunft oder seines Eintretens für Freiheit und Gerechtigkeit umgebracht wird, sollte eigentlich allgemein einsichtig sein. Doch das ist den Rechtspopulisten und -radikalen, die sich im Umfeld der Corona-Leugner tummeln, egal. Es geht ihnen um etwas anderes: Es geht um Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie. Und die ist oft eher eine Frage der Emotionen als des Intellekts.

DW-Redakteur Martin Muno

Die Opferrolle ist im Laufe der Geschichte wiederholt von gewählten und diktatorisch agierenden Machthabern wie auch von Oppositionellen benutzt worden, um eigenes Handeln zu legitimieren. Die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten wurde mit einer jüdischen Weltverschwörung begründet - die es natürlich niemals gab. Die sozialistische Staatsführung der DDR bezeichnete die mit Mauer und Stacheldraht gesicherten Grenzen, die die Staatsbürger zu Gefangenen im eigenen Land machten, als "antifaschistischen Schutzwall" - sprich: Die anderen bedrohen uns, und wir versuchen lediglich, uns zu wehren. Die vorgebliche Machtlosigkeit wird benutzt, um Macht auszuüben. Ähnliche Argumentationsmuster gebrauchen der um seine Macht kämpfende belarussische Präsident Alexander Lukaschenko ebenso wie die China-hörige Führung in Hongkong.

Der derzeitige Champion der Opferrolle aber sitzt im Weißen Haus: Donald Trump, als US-Präsident einer der mächtigsten Menschen dieses Planeten, schreit täglich über sein Lieblingsmedium Twitter in die Welt hinaus, wie ungerecht er behandelt wird. Seien es Untersuchungen über seine nicht gezahlten Steuern oder mögliche illegale Absprachen mit ausländischen Regierungen - überall vermutet er eine "Hexenjagd". Und auch um seinen "überwältigenden Wahlsieg" fühlt er sich betrogen.

Der Resonanzboden der Populisten

Das ist auf der Sachebene so lächerlich, wie der Auftritt der 22-Jährigen, die es als "Jana aus Kassel" an diesem Wochenende zu einiger Berühmtheit brachte. Doch es geht dabei nicht um den Wahrheitsgehalt. Es geht darum, die Gleichgesinnten zusammenzuhalten und legale wie illegale Protestaktionen zu legitimieren. Auch wenn Trumps Bemühen von Tag zu Tag aufs Neue scheitert, die Präsidentenwahl auf dem Gerichtsweg zu kippen - die Zahl seiner Anhänger, die glauben, die Wahl sei manipuliert, steigt. Damit legt er geschickt die Axt an ein Fundament der Demokratie.

In Deutschland können wir froh sein, dass der Resonanzboden der Populisten so viel kleiner ist. Der Grund dafür ist, dass es eine viel größere gemeinsame Vorstellung in der Gesellschaft gibt, was wahr und falsch ist. Dass der Glaube naiv ist, dies werde auch künftig der Fall sein, zeigen der Blick in die USA und in die Geschichtsbücher. Deswegen ist es wichtig, den Anfängen zu wehren und einer Vermischung von Wahrheit und Lüge, von Täter und Opfer entgegenzutreten.