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Politik

Auch Polen muss ein Rechtsstaat bleiben

3. Januar 2021

Die Einhaltung des gemeinsamen europäischen Rechts ist keine Geschmackssache, die jede nationale Regierung nach ihren Vorstellungen regeln kann, sondern das Fundament der EU, meint Dimitra Kyranoudi.

Solidaritätsdemonstration für Richter Igor Tuleya vor dem Obersten Gericht in WarschauBild: Getty Images/AFP/J. Skarzynski

Der Niedergang der Demokratie und der Weg zu einem autoritären System, das keinen Respekt vor Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit hat, beginnen fast immer auf die gleiche Weise: mit der Erosion der verfassungsrechtlichen Institutionen. In der Regel ist die unabhängige Justiz einer der ersten Bereiche, die untergraben werden.

Der Entzug der Immunität eines regierungskritischen Richters  durch die umstrittene Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs im November war ein weiterer Beleg für diese besorgniserregende Entwicklung in Polen. Laut Gesetz kann dieses Gremium, das indirekt eindeutig von der exekutiven Gewalt beeinflusst ist, die Entlassung von Richtern und Staatsanwälten entscheiden.

Die europäische Dimension

Auf den ersten Blick geht es bei Entscheidungen der Disziplinarkammer um komplexe juristische Fragen der nationalen Rechtsordnung Polens. Doch bei genauerer Betrachtung betrifft der umstrittene Fall die gesamte europäische Justiz.

DW-Redakteurin Dimitra KyranoudiBild: Chryssa Vachtsevanou/DW

Denn die Tatsache, dass eine nationale Disziplinarkammer mit umstrittener Legitimität - trotz eines gegenteiligen und klaren Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) - unabhängige polnische Richter bestrafen kann, müsste die Justiz aller anderen Mitgliedstaaten alarmieren. Genauso wie die Weigerung Polens, die Entscheidung der Richter in Luxemburg anzuerkennen.

Polnische Richter sind, wie alle nationalen Richter in den EU-Mitgliedstaaten, gleichzeitig europäische Richter. Sie müssen deshalb das gemeinsame europäische Recht anwenden. Die EU-Rechtsordnung ist eine verbindliche Grundlage für jeden Mitgliedstaat und sorgt für Rechtssicherheit innerhalb der EU.

Nicht an EuGH-Entscheide gebunden?

Diese Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Zugangs zu einer unabhängigen Justiz gelten ausnahmslos für alle Mitgliedstaaten. Angesichts der großen Krisen von Brexit bis zur Corona-Pandemie besteht die Gefahr, dass die fortschreitende polnische Justizreform in den EU-Staaten nicht die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient.

Für die Regierung in Warschau mag dies von Vorteil sein. Sie hat öffentlich erklärt, dass Polen nicht unbedingt an die Entscheidungen des EuGH gebunden sei. Für die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Europäischen Union ist die sogenannte Justizreform in Polen eine ernste Bedrohung.

Denn wenn auch in anderen EU-Ländern Regierungen mit einer ähnlichen politischen Ausrichtung wie die PiS-Partei an die Macht kämen, wäre die unabhängige Justiz in der gesamten EU in Gefahr. Wenn jeder Mitgliedstaat beginnen würde, den EuGΗ systematisch zu ignorieren, hätten die europäischen Werte für die EU selbst keine Bedeutung mehr.

Ein EU-Beitritt verpflichtet

In Polen hat die nationalkonservative PiS in den vergangenen Jahren die allmähliche und detailliert orchestrierte Auflösung der unabhängigen Justiz durch die Exekutive betrieben. Es begann mit der politischen Auswahl bei der Ernennung und der vorzeitigen Pensionierung der langjährigen obersten Richter. Und zeigt sich nun erneut im Vorgehen der Disziplinarkammer gegen einen regierungskritischen Richter, das nicht der letzte Fall dieser Art bleiben wird. Zumal der EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus nach dem jüngsten EU-Gipfel ohnehin nur noch ein stumpfes Schwert ist - andernfalls wäre der EU-Haushalt von Polen und Ungarn blockiert worden.

Am Ende aber vergisst die polnische Regierung im Streit mit der EU etwas sehr Wichtiges: Die Implementierung europäischen Rechts und die Einhaltung von EuGH-Entscheidungen ist weder eine Geschmackssache noch eine Frage der Wahl nach eigenem Ermessen. Es ist eine Verpflichtung, die sich aus dem freiwilligen EU-Beitritt ergibt.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs befasst sich seit den 1960er-Jahren mit diesem Thema in einer Reihe von historischen Entscheidungen. Und die Antwort ist klar: Das EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht. Nationale Rechtsvorschriften können sich nicht über die Grundlagen der EU-Rechtsordnung hinwegsetzen - schon gar nicht, wenn es um das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit geht.

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