In Deutschland wird schon bald ein Bündnis regieren, das es in dieser Konstellation auf Bundesebene noch nie gegeben hat. Angeführt von einer überraschenden Wahlsiegerin, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Diese älteste politische Kraft, hervorgegangen aus der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, hat schon mehrmals in ihrer langen Geschichte Mut zum Wandel bewiesen.
Zuletzt Anfang dieses Jahrtausends, als sie gemeinsam mit den Grünen die verkrustete Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik unter dem Schlagwort "Agenda 2010" modernisierte. Ein radikaler Kurswechsel, der den kranken Mann Europas, wie Deutschland damals genannt wurde, zumindest ökonomisch genesen ließ. Damit kam die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt wieder auf Trab und konnte seine wichtige Rolle als Zugpferd Europas reaktivieren.
Jede Partei hat im Koalitionsvertrag Duftmarken gesetzt
Dass es bei diesem radikalen Kurswechsel auch viele Verlierer gab, steht außer Frage. Die relative Armut in Deutschland ist besorgniserregend, nirgends gibt es einen größeren Niedriglohnsektor. Das will die designierte rot-grün-gelbe Ampelregierung jetzt ändern, indem der Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht wird. Damit löst Olaf Scholz, der künftige Bundeskanzler und Nachfolger Angela Merkels, ein zentrales SPD-Wahlversprechen ein. Gut so, denn davon werden rund zehn Millionen Menschen profitieren.
Dabei war diese überfällige Maßnahme in den Koalitionsverhandlungen alles andere als unumstritten, weil die stark marktwirtschaftlich orientierten Freien Demokraten von staatlichen Eingriffen in die Tarifautonomie eigentlich nur eines halten: nichts. Im Gegenzug konnte sich die FDP mit ihrer Forderung durchsetzen, an der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse festzuhalten. Und die Handschrift der Grünen ist bei ihrem Herzensthema Klima unübersehbar. So soll, nur ein Beispiel, der Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorgezogen werden.
Gute Idee: Krisenstab für den Kampf gegen Corona
Die drei Ampel-Parteien haben also ein hohes Maß an Kompromissfähigkeit bewiesen. In der Umsetzung ihres anspruchsvollen Programms für Deutschland, Europa und die Welt werden sie viele Verbündete auch jenseits des Kabinettstisches und außerhalb des Parlaments benötigen. Im eigenen Land müssen sie ihren Worten schnell Taten folgen lassen. Ein guter Anfang ist die Ankündigung, zur Eindämmung der Corona-Pandemie einen Krisen- und Expertenstab zu etablieren.
Wie gute Absichten lesen sich die Passagen zur Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Dass die Europäische Union (EU) international handlungsfähiger und einiger auftreten muss, war schon das Ziel in 16 Jahren unter Angela Merkel. Wie schwer, ja fast unmöglich das ist, zeigt sich am Brexit. Und die Fliehkräfte werden eher stärker als schwächer, wenn man die rechtsstaatlichen Defizite vor allem in Polen und Ungarn als Maßstab nimmt.
Olaf Scholz garantiert Kontinuität in Europa
Auf diesem holprigen Feld wird die künftige deutsche Regierung besonders viel Fingerspitzengefühl, aber auch Durchsetzungsvermögen benötigen. Das gilt auch im Verhältnis zu den sechs Staaten der Westbalkanregion, die Mitglied der europäischen Familie werden wollen. Dass Deutschland seine traditionell große Verantwortung in der EU laut Koalitionsvertrag in einem "dienenden Verständnis" wahrnehmen will, klingt gut. Mit Olaf Scholz, unter Angela Merkel schon Vizekanzler, ist Kontinuität garantiert.
Das Gleiche gilt für das Verhältnis zum nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO) und damit automatisch
zu den USA. Wenn die politische Komponente dabei künftig gestärkt werden soll, ist das schon wegen des militärischen Afghanistan-Desasters mehr als sinnvoll. Dazu passt dann bestens die Absicht, eine restriktive Rüstungspolitik anzustreben.
In der Tradition Willy Brandts
Auch gegenüber so unterschiedlichen Ländern wie China, Russland und der Türkei will die Ampel-Koalition das tun, was nach vielen Jahren der zunehmenden Spannungen unumgänglich ist: auf die Einhaltung der Menschenrechte pochen und trotz krisenhafter Beziehungen im Gespräch bleiben. Für all diese Herausforderungen - national wie international - scheinen die drei regierungswilligen Parteien SPD, Grüne und FDP eine brauchbare Grundlage gefunden zu haben.
Das dafür im Koalitionsvertrag gefundene Motto "Mehr Fortschritt wagen" erinnert nicht zufällig an den SPD-Slogan aus der Zeit des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt. "Mehr Demokratie wagen" war in der 1969 mit der FDP geschmiedeten Koalition ein Versprechen. Ein Versprechen, dass Deutschland gesellschaftspolitisch Schritt für Schritt entstaubte und auf dem internationalen Parkett zur Entspannungspolitik mit dem kommunistischen Teil der Welt führte.
Mit demokratischer Gesinnung und Aufbruchstimmung
Dass sich die Ampel selbst als "Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" bezeichnet, ist zunächst ein Zugeständnis an das jeweils eigene Selbstverständnis: Die FDP steht besonders für Freiheit, die SPD für Gerechtigkeit und die Grünen für Nachhaltigkeit. Wer könnte etwas gegen diesen wohlklingenden Dreiklang haben? Nur jene, die innerhalb und außerhalb Deutschlands auf Nationalismus, Abschottung und autoritäre Politik setzen. Davon gibt es leider viele. Ihnen selbstbewusst, mit demokratischer Gesinnung und Aufbruchstimmung gegenüberzutreten, ist ein schönes Signal aus Deutschland.