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Politik

Sinnbild für 20 Jahre Krieg in Afghanistan

24. August 2021

Die Bilder vom Kabuler Flughafen machen einen seit Tagen nur noch fassungslos. Der Einsatz in Afghanistan endet, wie er begonnen hat - mit großer neokolonialer Attitüde, meint Waslat Hasrat-Nazimi.

Kein Durchkommen - seit Tagen herrscht Gedränge und Chaos am Flughafen in KabulBild: LANCE CPL. NICHOLAS GUEVARA/UPI/imago images

Dramatische Szenen am Flughafen von Kabul. US-Soldaten schreien die sich auf sie zubewegenden Afghanen an und fordern sie auf zurückzuweichen. Einer schiebt die drängende Menge von sich weg, während ein anderer mit der Waffe auf die Menschen zielt. Einige Afghanen halten ihre Pässe hoch - auch europäische sind dabei. Die Soldaten scheint das aber nicht zu interessieren. In Videos sieht man, wie US-Militärs in die Menge schießen und mit Tränengas versuchen, das Chaos unter Kontrolle zu bekommen. Frauen schreien und flehen um Hilfe, andere fallen in Ohnmacht. Kinder starren mit entsetzten Augen auf ihre Eltern - stehen offenbar unter Schock.

In diesen Tagen sind derlei Bilder überall präsent - wie viele, kleine Mahnmale auf allen TV-Schirmen und Displays der Smartphones: Seht her, das widerfährt denen, die sich nicht bekehren lassen wollen vom Steinzeit-Islam. In Deutschland und Europa ist man fassungslos. Wie konnte es nur zu dieser dramatischen Situation kommen? Wie verzweifelt muss sein, wer sein Baby über einen Stacheldrahtzaun reicht, ohne selbst folgen zu können?

Im Flüchtlingslager sind alle gleich

Wenige Stunden nachdem die ersten Evakuierungsflüge der US-Amerikaner starteten, wandelte sich der Flughafen Kabul zu einem unorganisierten Flüchtlingslager. Hier zählt nicht, wer welchen Pass hat oder welches Visum, ob in Deutschland geboren oder in Afghanistan. Hier, wo das Recht des Stärkeren gilt, ist man nur eins: Afghane. Und damit nur ein Mensch Zweiter Klasse und wird auch so behandelt. Sozialer Status, Bildungsgrad, gute Kontakte, Reichtum oder der gesicherte Aufenthaltsstatus - all das interessiert nicht mehr. Vorbei die Illusion, man müsse sich nur genug anstrengen, dann könne man Krieg und Trauma entkommen und wie ein Mensch Erster Klasse in Nordamerika oder Europa leben.

Waslat Hasrat-Nazimi leitet die Paschtu/Dari-RedaktionBild: Fahim Farooq

Was hier geschieht, ist ein Sinnbild für das, was den Afghanen seit 20 Jahren - nein seit über 40 Jahren - gespiegelt wird: ein hilfloses, verzweifeltes Volk, das von der moralisch überlegenen Weltgemeinschaft gerettet werden muss. In diesen Tagen nun gefangen zwischen auf sie schießenden US-Soldaten auf der einen und den mit archaischen Strafen drohenden Taliban auf der anderen Seite. Afghanen sind darauf angewiesen, dass man ihnen überhaupt die Menschenrechte zuerkennt und ihnen daraus abgeleitet das Recht auf Schutz und Sicherheit gewährt.

Der neokoloniale Blick

Doch sogar unter den Menschen Zweiter Klasse wird noch einmal unterschieden: Das unschuldige Baby, unbefleckt von Terrorverdacht und Islamismus, das von US-Soldaten errettet wird, zählt zur beliebtesten Kategorie. Solche Kinder kann man noch formen und im Westen integrieren. Täglich erscheinen neue Propaganda-Bilder von Militärs, wie sie wenige Monate alte Babys in ihren Armen tragen.

Es ist so grotesk: Wenige Minuten zuvor wurden die Eltern dieser Kinder noch misshandelt. Nur getrennt von ihren Eltern meint man, ihnen eine erstrebenswerte Zukunft bieten zu können. Eine alte koloniale Strategie, die in den USA und in Kanada schon gegenüber den indigenen Völkern zum Einsatz kam.

Im extremen Kontrast zum "reinen" Kind steht der erwachsene, unzivilisierte Afghane: die sich in ihren Blutfehden ewig gegenseitig ihre Köpfe einschlagenden Männer. Insbesondere mit dem afghanischen Mann hat man im Westen keinerlei Mitleid. Immer wieder wird gefragt, warum denn fast ausschließlich Männer als Flüchtlinge kommen. Warum sie sich denn nicht wehren und gegenüber den Taliban kampflos aufgegeben haben?

Eine globale Inszenierung

Übersehen wird dabei, dass die afghanische Armee eben nicht kampflos aufgegeben hat, sondern sowohl von den USA und der NATO als auch von der eigenen Regierung im Stich gelassen wurde. Und dass vor allem Männer flüchten, weil Frauen in Afghanistan sich allein kaum noch aus dem Haus trauen können. Auch wie gefährlich und körperlich anstrengend eine Flucht über die Landesgrenzen für Frauen ist, wird gerne unter den Teppich gekehrt. Stattdessen werden stumpf orientalische und neokoloniale Zerrbilder wiederholt. Getreu dem Befund der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak aus dem Jahr 1988, die globale Inszenierung laute "Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern".

Erinnern wir uns - legitimiert wurde der Afghanistan-Einsatz vor 20 Jahren neben dem Kampf gegen den Terror mit genau diesem Vorsatz: Der Westen wollte Afghanistan von den Taliban befreien, um die afghanischen Frauen zu retten. Genau diese Frauen überlässt man jetzt wieder ihrem Schicksal. Nur die, die es in ein Flugzeug Richtung Westen schaffen, haben die Chance, als Frau so zu leben, wie es dem westlichen Ideal entspricht. Alle anderen - und erst recht die Männer Afghanistans - will man sich selbst überlassen.

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