Checkt eure Privilegien!
Es ist anstrengend. Und nervtötend. Und manchmal einsam. Oder langweilig. Der Corona-Lockdown verlangt uns allen einiges ab, das ist unbestritten - den einen (wie Wirten, Ladenbesitzern oder Künstlern) mehr, den anderen weniger. Eltern hadern mit dem digitalen Homeschooling oder der fehlenden Kinderbetreuung, der Alltag läuft aber weiter, der Job bei der überwiegenden Mehrheit auch. Nach Feierabend gibt es dagegen nur Couch und Netflix als Ablenkung - und kein Feierabend-Bier in der Stammkneipe. Wenn es die nach dem Lockdown überhaupt noch gibt.
Ja, das ist blöd, keine Frage. Doch an dieser Stelle gibt es viele "Aber" zu verzeichnen, denn: Den meisten von uns geht es vergleichsweise gut. Die Isolation nervt, aber Alleinlebende zum Beispiel haben niemanden mehr zum Austausch und vereinsamen zunehmend. Die Einschränkungen sind anstrengend, aber die wenigsten von uns müssen seit Monaten in Vollschutz-Montur COVID 19-Patienten auf Intensivstationen betreuen. Eben jene, die an Beatmungsgeräte angeschlossen sind, einsam bangend, ob sie ihre Familie noch einmal wiedersehen werden. Auch müssen die meisten von uns nicht die am Coronavirus Verstorbenen in hässlich unwürdige Leichensäcke verpacken, damit ihre kalten Körper auf dem Weg ins überfüllte Krematorium niemanden anstecken.
Unterricht in der Pandemie - nicht selbstverständlich
Wer im Homeoffice sitzt - und parallel die Arbeitsblätter, Videokonferenzen und Schulchats für die Kinder organisieren muss - hat jedes Recht darauf, genervt zu sein. Aber: Immerhin gibt es trotz Lockdown in Deutschland überhaupt Unterricht. Immerhin haben die meisten von uns Zugang zu Laptop oder Tablet, um daran teilnehmen zu können. Wie viele Kinder aus finanziell schwachen Familien sind schon im ersten Jahr der Pandemie verloren gegangen, weil sie keine Möglichkeiten haben, digital zu lernen? Und in vielen Weltgegenden fällt die Schule einfach komplett aus und eine ganze Generation verpasst den Anschluss an eine bessere Zukunft, die eben nur durch Bildung gesichert wird.
Dass Gastronomen, Einzelhändler und Künstler um ihre Existenz fürchten, ist furchtbar. Es ist tragisch und traurig. Wir alle vermissen das gemütliche Beisammensein in heimeliger Atmosphäre oder das verträumte Stöbern im Buchhandel. Aber in Deutschland gibt es ein großartiges soziales Sicherungsnetz: Es gibt Milliarden Euro an Kurzarbeitergeld, zusätzliche Hilfen für Familien oder Alleinerziehende.
Es ist ätzend, dass viele Selbstständige und Kleinunternehmer trotzdem mit dem Rücken zur Wand stehen, weil die versprochenen Hilfen nicht schnell genug fließen, Fixkosten wie Mieten aber weiterlaufen - aber es gibt sie: die staatliche Hilfe. Hier muss niemand Dutzende Kilometer aus den Städten zu Fuß aufs Land laufen, um nach Verlust des Arbeitsplatzes durch den Lockdown in den Schoß der Großfamilie zurückzukehren - wie in Indien, wo die Seuche erst dadurch im ganzen Land verbreitet wurde. Und wo viele derer, die zu Millionen in den Städten ihre Jobs verloren haben, auf dem Weg nach Hause verhungert sind, weil auch die Restaurants an den Straßenrändern geschlossen sind.
Wirklich die größte Krise?
Die Vergleiche sind für manche vielleicht schwer zu ertragen. Die Lebensrealität der Deutschen hat eben wenig mit der von Menschen in Indien oder Afrika zu tun. Und klar ist auch: Wir haben alle das Recht genervt zu sein.
Aber was wir definitiv nicht übersehen dürfen: Abgesehen von den finanziell Schwächsten unserer Gesellschaft, die durch die Corona-Pandemie noch stärker an den Abgrund gedrängt werden, hat der Rest von uns ein sicheres Dach über dem Kopf, den Kühlschrank voll und der Strom kommt zuverlässig für den nächsten Streaming-Marathon aus der Steckdose. Es ist vielleicht die größte Krise für uns Deutsche seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber es fallen keine Bomben und niemand muss wegen Terror, Gewalt, Dürre oder Hunger aus dem Land fliehen. Ein großes Privileg.