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Chile lehnt neue Verfassung ab, aber nicht den Wandel

DW-Kommentarbild Emilia Rojas-Sasse App PROVISORISCH
Emilia Rojas
5. September 2022

Der Entwurf für eine neue Verfassung konnte die Mehrheit der chilenischen Bürger nicht überzeugen. Es wäre aber ein Fehler, jetzt alles beim Alten zu lassen, als wäre nichts passiert, meint Emilia Rojas.

Die Entscheidung in Chile war überraschend eindeutig - die Gründe sind vielfältigBild: Alex Diaz/REUTERS

Die Ablehnung der neu ausgearbeiteten Verfassung in Chile ist ein schwerer Schlag für die Regierung von Präsident Gabriel Boric. Vor allem jedoch für alle diejenigen, die ihre Hoffnungen auf einen tiefgreifenden Wandel in eben diesen Verfassungsentwurf gesetzt hatten. Umfragen hatten die deutliche Ablehnung bereits prognostiziert. Dennoch fiel es bis zum Wahltag vielen schwer, an diesen Ausgang des Referendums zu glauben: Waren die Chilenen doch 2019 massenhaft auf die Straße gegangen, um gegen das von der Pinochet-Diktatur eingeführte neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu protestieren.

Das scheint ein großer Widerspruch zu sein. Und das ist, gelinde gesagt, ein schwerer Rückschlag bei den Bemühungen um ein neues Modell für das Land. Aber es ist nicht das Ende von allem. Es ist das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, der durch eine hohe Wahlbeteiligung aufgrund der bestehenden Wahlpflicht hervorgerufen wurde. 

Bleibt jetzt alles beim Alten?

Bedeutet dieses Ergebnis, dass sich nun jeder Reformwille in Luft auflöst? Dass Chile den 1980 mit der Pinochet-Verfassung eingeschlagenen Weg jetzt automatisch weitergehen wird? Das ist unwahrscheinlich. Die konservativen Kreise, die jetzt ihren Erfolg feiern, wissen auch, dass Pinochets Verfassung politisch nicht mehr tragfähig ist. Die große Mehrheit der Bürger hatte sich schon für Veränderungen ausgesprochen, als sie in großer Zahl für die Einsetzung eines Verfassungskonvents stimmten und dessen Mitglieder wählten. Die Ablehnung des vorgeschlagenen Textes bedeutet nicht, dass sie ihre Meinung grundlegend geändert haben. Sie bedeutet allein, dass der jetzt vorgelegte Entwurf die Mehrheit nicht überzeugen konnte.

DW-Redakteurin Emilia Rojas

Die Gründe für dessen Ablehnung sind vielfältig. Es wäre zu einfach, das Ergebnis auf die massive, mit Unwahrheiten gespickte Kampagne gegen den Verfassungsentwurf zurückzuführen. Zweifellos diente diese Strategie dazu, Unsicherheit zu säen und viele von einer Zustimmung abzuhalten. Aber das erklärt nicht alles, schon gar nicht den Vorsprung, mit dem der Entwurf abgelehnt wurde.

Es ist auch nicht hilfreich, die ideologische Variable zur Analyse des Ergebnisses heranzuziehen. Denn es gibt auch eine beträchtliche Anzahl von Bürgern verschiedener politischer Richtungen, die eine neue Verfassung für notwendig halten. Die aber Einwände und begründete Kritik an dem von der verfassungsgebenden Versammlung erarbeiteten Entwurf geäußert haben. Sie hielten die von den Befürwortern der neuen Verfassung selbst als notwendig erkannten Änderungen nicht für ausreichend und lehnten sie ab, um den Entwurf "zu verbessern". Das heißt, sie setzen von vornherein auf einen neuen Anlauf der grundlegenden Staatsreform.

Damit kein Missverständnis entsteht: Das Ergebnis des Referendums ist auf keinen Fall die Bestätigung des neoliberalen Modells, das die Ungleichheit in Chile seit Jahrzehnten zementiert. Dies anzunehmen hieße, die Realität der sozialen Unzufriedenheit zu ignorieren und die Menschen anzuspornen, erneut auf die Straße zu gehen. Der Wille zur Veränderung wird mit dem ablehnenden Votum in diesem Referendum nicht verschwinden.

Geschwächte Regierung

Nun ist es notwendig, dem verfassungsgebenden Prozess einen neuen institutionellen Kanal zu geben. Welchen? Das ist offen, und hier werden die großen Ungewissheiten sichtbar, die das Land nach diesem Referendum erschüttern werden. Wird es möglich sein, nach diesem Scheitern den verfassungsgebenden Prozess neu zu beschreiten, wie es sich einige wünschen?

Die Lage ist kompliziert, zumal die Regierung durch das Ergebnis des Plebiszits massiv geschwächt ist, obwohl sie selbst gar nicht zur Wahl stand. Wird nun das Parlament das Heft in die Hand nehmen? Auch dies würde nicht einfach werden, denn das politische Kräfteverhältnis ist hier viel ausgeglichener als in der bisherigen verfassungsgebenden Versammlung. Vor allem aber ist die Glaubwürdigkeit des Parlaments in den Augen der Öffentlichkeit besorgniserregend gering.

Die diskreditierten politischen Kräfte haben nun den dringenden Auftrag, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen und sich für das Wohl und die Zukunft des Landes einzusetzen. Das ist ihre Aufgabe: den Weg zu einem gerechteren, solidarischeren und integrativeren Chile zu ebnen - was zwangsläufig auch eine neue Verfassung erfordert. Alles andere wäre eine echte Katastrophe für Chile.

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