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Politik

Mehr Respekt vor der Justiz bitte!

14. November 2020

Politiker kritisieren neuerdings verstärkt Gerichte, wenn die Richter Corona-Demos erlauben, diese dann aber eskalieren. Damit lenkt die Politik jedoch auch von eigenen Fehlern ab, meint Marcel Fürstenau.

Corona-Demonstration auf dem Leipziger Augustusplatz am 7. November 2020Bild: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Wie sich die Bilder gleichen! Viele Tausend Menschen dicht an dicht, kaum jemand trägt eine Maske, um sich und andere vor einer Corona-Infektion zu schützen. Und dann auch noch Ausschreitungen. So zu beobachten auf einer Demo in Leipzig am 7. November und schon Monate vorher am 29. August in Berlin. Und das alles im Namen der Versammlungsfreiheit? Nein, unter ihrem Deckmantel! Die allermeisten Demonstranten haben ihr Recht auf Meinungsfreiheit mit provozierender und boshafter Rücksichtslosigkeit missbraucht.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat es präzise auf den Punkt gebracht: Demonstrationsfreiheit ist "nicht die Freiheit zur Gefährdung von anderen". Aber auch das deutsche Staatsoberhaupt kennt natürlich kein Patentrezept, mit dem sich vorbildliche und friedfertige Kundgebungen garantieren ließen. Verstöße, auch Ausschreitungen wird es leider immer geben. Das wissen alle. Und trotzdem käme kein demokratisch denkender Mensch auf die Idee, das Versammlungsrecht infrage zu stellen. 

Gerichte müssen immer abwägen - und tun es auch!

Allerdings werden jene Stimmen lauter, die in Zeiten der Pandemie Einschränkungen fordern. Unter dem Eindruck der immer wieder verstörenden Bilder von Corona-Demos ist das verständlich. Dabei kann keine Rede davon sein, dass Gerichte immer alles erlauben. Jede einzelne Entscheidung ist eine Güterabwägung. So wurde in Leipzig die Teilnehmerzahl vom sächsischen Oberverwaltungsgericht auf 16.000 begrenzt, um die Abstandsregeln auf dem zentralen Augustusplatz in der Innenstadt - zumindest theoretisch - gewährleisten zu können.

DW-Redakteur Marcel FürstenauBild: DW

Trotzdem war Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung "empört" über die Entscheidung, den Protest gegen die deutsche Corona-Politik mitten in der City zu erlauben. Wäre es nach ihm gegangen, hätte die Demo - wenn überhaupt - am Stadtrand stattfinden sollen. Auf dem Messegelände, wo niemand vom Protest Notiz genommen hätte. Doch diesen Gefallen hat ihm das von politischen Weisungen unabhängige Oberverwaltungsgericht zum Glück nicht getan. Es hat damit auch keineswegs "unverantwortlich" gehandelt, wie der sächsische Innenminister Roland Wöller kritisierte.

Die Polizei hätte durchgreifen müssen

Beide Politiker - der Sozialdemokrat Jung wie der Christdemokrat Wöller - offenbaren ein fragwürdiges Demokratieverständnis. Der Wunsch nach einer Entscheidung in ihrem Sinne ist legitim, ihre rhetorisch ungezügelte Attacke auf die Justiz hingegen respektlos. Was die Sache noch schlimmer macht: Sie versuchen den Blick auf Fakten und Zuständigkeiten zu verschleiern. Das Oberverwaltungsgericht berücksichtigte bei seiner Entscheidung nämlich sehr wohl Forderungen der Leipziger Gesundheitsbehörde und die Gefahrenprognosen der Polizei.

Pro Demonstrant sollten sechs Quadratmeter zur Einhaltung des Mindestabstands unter Corona-Bedingungen zur Verfügung stehen. Diese Voraussetzung war bei 16.000 genehmigten Teilnehmern in der Innenstadt sogar übererfüllt. Dass anscheinend deutlich mehr Menschen kamen, kann man nicht dem Gericht anlasten. Offensichtliche und fortgesetzte Verstöße gegen das Versammlungsrecht hätte die Polizei frühzeitig unterbinden müssen. Das hat sie offenkundig versäumt. Auch dafür trägt das Gericht keine Verantwortung.

Vertrauen in die Justiz ist unverzichtbar

Am Ende bleibt der fatale Eindruck von lauter Verlierern. Die Polizei ließ zunächst Masken-Verweigerer unbehelligt und nach der offiziellen Auflösung aggressive Demonstranten, darunter Rechtsextremisten, weiter durch Leipzig marschieren. Dafür dem Oberverwaltungsgericht die Schuld in die Schuhe zu schieben, ist ungerecht und feige. Wer so agiert, sät Zweifel an einer unabhängigen Justiz. Dafür gibt es - anders als in Polen und Ungarn - in Deutschland überhaupt keinen Grund.  

In den beiden osteuropäischen Ländern haben übermächtige Regierungen und willfährige Parlamentsmehrheiten das Gleichgewicht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative nachhaltig gestört. Ältere Demokratien scheinen davor besser geschützt zu sein. Das lässt sich gerade auch in den USA beobachten, wo der schlechte Wahl-Verlierer Donald Trump mit seinen fadenscheinigen Klagen gegen die Stimmenauszählung vor Gericht überwiegend abblitzt. Vertrauen in die Justiz zahlt sich in einer pluralistischen Gesellschaft auf Dauer immer aus - auch wenn einem nicht jede Entscheidung gefällt. Das zu beherzigen, sollte für Demokraten eine Selbstverständlichkeit sein. Kritik ja, Verunglimpfung nein!

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland