Beim Thema Gleichberechtigung hat die neue Bundesregierung Fortschritte erzielt. Dennoch wäre mehr möglich gewesen. Die Besetzung wichtiger politischer Ämter nach Quotenkriterien ist eine Kunst, meint Marcel Fürstenau.
Anzeige
Frauenquote, Migrantenquote, Ost/Westquote - ganz schön anstrengend, das alles unter einen Hut zu bringen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat es aber ganz gut hinbekommen: Der Sozialdemokrat hat acht Frauen in sein Kabinett berufen und acht Männer.
Damit hat Deutschland erstmals eine Regierung, in der es genauso viele Ministerinnen gibt wie Minister. Chapeau! Da hat einer seinen Worten im Wahlkampf Taten folgen lassen. Unter seiner Vorgängerin Angela Merkel war der Männerüberschuss noch beträchtlich - 9:6.
Frauenförderung spielte bei Merkel keine große Rolle
Aber schon bei diesem Vergleich ist Vorgesicht geboten, denn der Kanzler respektive die Kanzlerin gehört ja auch dazu. Und schon sieht das Ganze sehr ähnlich aus: In der alten Regierung gab es mit Angela Merkel sieben Frauen und neun Männer, in der neuen mit Olaf Scholz steht es acht zu neun. Auffällig ist, dass sich die erste deutsche Bundeskanzlerin in den 16 Jahren ihrer Regentschaft stets für deutlich mehr Männer entschieden hat.
Deutschlands neue Regierung
Der Koalitionsvertrag ist veröffentlicht, die Besetzung der Kabinettsposten steht fest. Ein Blick auf die Gesichter der künftigen Bundesregierung.
Bild: picture-alliance/dpa/U. Baumgarten
Scholz löst Merkel ab
Olaf Scholz (63) hat seine Partei zum Wahlsieg geführt; nun wird er Nachfolger von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Gewählt wird der Volljurist in der Nikolauswoche. Scholz kennt den Politikbetrieb: Jahrelang war er Minister und Erster Bürgermeister von Hamburg. Ein zentrales Projekt ist die Erhöhung des Mindestlohns.
Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa
Schmidt, der Strippenzieher
Wolfgang Schmidt (51) wird Kanzleramtsminister werden. Das scheint folgerichtig: Schmidt wird nachgesagt, dass niemand Olaf Scholz besser kenne als er. Seit 20 Jahren arbeiten die beiden Hamburger Seite an Seite. Schmidt glaubte schon an Scholz als Bundeskanzler, als das für viele andere noch aussichtslos erschien. Nun versprach er Scholz, ihm "den Rücken freihalten" zu wollen.
Bild: Kay Nietfeld/picture alliance/dpa
Der Kämpfer gegen die Pandemie
Karl Lauterbach ist die Überraschung im Kabinett. Viele in der Bevölkerung und Politik hatten sich ihn als Gesundheitsminister gewünscht. Doch er war zunächst nicht vorgesehen. Nun lobte ihn Olaf Scholz als "einen vom Fach". Der 58-Jährige ist Mediziner und Gesundheitsökonom. In der Pandemie war er medial omnipräsent, warnte und eckte an. Sein Ressort habe jetzt "erste Priorität", wie es hieß.
Bild: picture alliance/dpa
Wieder eine Chefin für die Bundeswehr
Christine Lambrecht war zuvor Justizministerin, nun wird sie Verteidigungsministerin. Die 56-jährige Rechtsanwältin übernimmt ein traditionell schwieriges Ressort. Sie will den militärischen Beruf attraktiver machen. Auslandseinsätze der Bundeswehr sollen zukünftig ständig evaluiert und mit einer Exit-Strategie versehen werden. Sie ist die dritte Frau in Folge auf diesem Posten.
Bild: Hannibal Hanschke/REUTERS
Heil bleibt im Amt
Der 49 Jahre alte Hubertus Heil macht das, was er zuletzt auch schon tat: Er ist weiterhin für das Ressort "Arbeit und Soziales" zuständig. Er gilt als bodenständig und pragmatisch. Grundrente und Mindestlohn gehören zu seinem politischen Profil. Für die neue Legislatur hat er angekündigt, für mehr Recht auf Home-Office zu kämpfen
Bild: Uwe Koch/Eibner-Pressefoto/picture alliance
Geywitz übernimmt völlig neues Ressort
Klara Geywitz ist eine von nur zwei Ostdeutschen im Kabinett. Sie bekommt das neu geschaffene Ministerium für Bauen und Wohnen. 400.000 neue Wohnungen pro Jahr sollen entstehen. Die 45-Jährige stammt aus Brandenburg, ist dort seit vielen Jahren kommunal und in der Landespolitik aktiv. In der Bundes-SPD ist sie Vize-Chefin. Scholz sieht in ihr "ein ganz großes Talent".
Bild: Reuters/A. Hilse
Starke Frau aus Hessen für die Innenpolitik
Erstmals wird das Innenministerium von einer Frau geführt. Die 51-jährige Juristin Nancy Faeser kommt aus Hessen, war dort Partei- und Fraktionsvorsitzende. Sie will ihren Schwerpunkt auf die Bekämpfung des Rechtsextremismus legen und versprach eine gut ausgestattete Bundespolizei. Die Menschen hätten einen Anspruch auf Sicherheit im Land.
Bild: Hannibal Hanschke/REUTERS
Schulze: neue Perspektive auf globale Themen
Die 53-jährige Svenja Schulze war vorher Umweltministerin - nun übernimmt sie das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. "Globale Themen haben sie schon immer umgetrieben", sagte Scholz bei der Vorstellung des Kabinetts. Sie beherrsche "das internationale Parkett". Vor allem beim Klimaschutz hat sich Schulze einen Namen gemacht.
Bild: Toni Kretschmer/BMU/dpa/picture alliance
Lindner hütet bald die Kasse
Christian Lindner hat einen Coup gelandet: Das Amt des Finanzministers gilt als wichtigster Posten nach dem Bundeskanzler. Der 42-Jährige führt seit 2013 die liberale FDP - auch durch schwierige, außerparlamentarische Zeiten (2013-2017). Nun übernimmt der Liberale das Finanzministerium - obwohl die Grünen bei der diesjährigen Bundestagswahl mehr Stimmen erhalten haben als die FDP.
Marco Buschmann: Der 44-jährige Jurist wird neuer Justizminister. Als erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion kennt er die Partei gut; er hatte sie nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag mit neu aufgebaut. Im Wahlkampf warb er für eine liberalere Corona-Politik.
Der dritte FDP-Posten geht an den aktuellen Generalsekretär der Partei: Volker Wissing (51) übernimmt das Ministerium für Verkehr und Digitales. Er kennt sich aus mit Ampel-Koalitionen. Im Bundesland Rheinland-Pfalz war er bereits Mitglied eines solchen Dreierbündnisses. Auf Bundesebene gehörte Wissing dem kleinen Kreis an, der erste Sondierungen angestoßen hat.
Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa
Stark-Watzinger möchte "Bildungsrevolution"
Das vierte Ministerium für die FDP ist Bildung und Forschung. Es geht an Bettina Stark-Watzinger (53). Seit vier Jahren sitzt sie für die FDP im Bundestag und verhandelte den Koalitionsvertrag mit. Bereits im Wahlkampf äußerte sie sich zu bildungspolitischen Themen und veröffentlichte einen Artikel, in dem sie ihre Vision darlegte. Sie plädiert für einen "grundlegenden Systemwechsel".
Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa
Außenamt statt Kanzleramt für Baerbock
Annalena Baerbock (40) hat als Kanzlerkandidatin die Grünen in den Wahlkampf geführt und konnte auch das Wahlergebnis von 2017 steigern. Für das Kanzleramt reichte es aber nicht, auch weil sie sich Patzer im Wahlkampf erlaubte. Nun wird sie Außenministerin - als zweite Grüne, die dieses Amt übernimmt. Zuvor war bereits Joschka Fischer um die Jahrtausendwende Außenminister.
Bild: Bernd Settnik/picture alliance/dpa
Habeck, der neue Super-Minister
Robert Habeck ist seit 2018 Ko-Vorsitzender der Grünen. Im Rennen um die Kanzlerkandidatur war er Baerbock unterlegen. Deren Wahlergebnis blieb hinter den Erwartungen zurück. Nun wurde der gelernte Philosoph und ehemalige Landesminister aus Schleswig-Holstein als Bundesminister des neugeschaffenen Ressorts für Wirtschaft und Klimaschutz auserkoren. Auch wird der 52-Jährige Vizekanzler.
Bild: Reuhl/Fotostand/picture alliance
Özdemir gewinnt Postengerangel
Ex-Grünen-Chef Cem Özdemir (55) soll in der künftigen Bundesregierung das Ressort für Ernährung und Landwirtschaft übernehmen. Der Entscheidung vorausgegangen war ein erbittertes Ringen um die Kabinettsposten. Fraktionschef Anton Hofreiter, der dem linken Parteiflügel zugerechnet wird, geht nun leer aus. Der "Realo" Özdemir ist der erste Bundesminister mit türkischem Migrationshintergrund.
Bild: Getty Images/AFP/J. MacDougall
Lemke nimmt sich der Umwelt an
Für das Ressort Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz ist Steffi Lemke (53) vorgesehen. Die Ostdeutsche lenkte als Bundesgeschäftsführerin der Grünen elf Jahre lang (2002-2013) die Geschicke der Partei. Lemke ist studierte Agrarwissenschaftlerin und ausgebildete Zootechnikerin. Im Bundestag war einer ihrer Schwerpunkte der Kampf gegen die Zerstörung des Lebensraums Meer.
Bild: Hendrik Schmidt/picture alliance/dpa
Spiegel wechselt von Mainz nach Berlin
Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Das dafür zuständige Bundesministerium bekommt Anne Spiegel als Chefin. Das Thema dürfte ihr bekannt vorkommen, war sie doch in Rheinland-Pfalz schon als Landesministerin unter anderem für Familie, Frauen und Jugend zuständig. Die 40-Jährige gehört dem linken Flügel der Grünen an.
Bild: Armando Babani/AFP
Roth soll die Bundeskultur lenken
Claudia Roth rückt ins Rampenlicht bundesdeutscher Kulturpolitik. Die 66-Jährige soll als Kulturstaatsministerin ins Kanzleramt einziehen, wodurch sie dann auch für die DW zuständig sein wird. Ex-Parteichefin Roth ist eines der prominentesten Gesichter der Grünen. Zuletzt war die frühere Managerin der Anarchoband "Ton Steine Scherben" Vizepräsidentin des Bundestages.
Bild: imago images/kolbert-press/B. Schreyer
18 Bilder1 | 18
Man kann also gut begründet behaupten: Bei der Frauenquote gab es unter Angela Merkel bis zuletzt noch viel Luft nach oben. Wie es anders geht, zeigt ihr Nachfolger. Und wie es noch besser geht, zeigt ein Blick in ausgewählte Bundesländer, von denen es in der föderalen Bundesrepublik immerhin 16 gibt.
Beispiel Berlin: In der deutschen Hauptstadt, die zugleich ein Stadtstaat ist, steht mit der Sozialdemokratin Franziska Giffey erstmals eine Frau an der Spitze des regierenden Senats. Ihm gehören zusammen mit ihr sieben Frauen und vier Männer an.
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuel Schwesig (SPD) ist eine von fünf Frauen, denen vier Männer gegenüberstehen. Malu Dreyer, ebenfalls Sozialdemokratin, führt in Rheinland-Pfalz eine Regierung mit sechs weiteren Frauen und fünf Männern.
Anzeige
Zwei Makel fallen besonders auf
All diese Regierungen sind 2021 gebildet worden. Rein statistisch betrachtet hat sich also die SPD als führende Regierungspartei auf Bundes- und Landesebene um die Frauenförderung in der Politik verdient gemacht. Dafür gebührt ihr Anerkennung, weil das vermeintlich Selbstverständliche viel zu lange vernachlässigt wurde. Dieser Trend, diese erfreuliche Momentaufnahme sollte zugleich Verpflichtung für alle künftigen Regierungsbildungen sein, sich unabhängig von den Parteifarben an diesen Vorbildern zu orientieren.
Erheblicher Nachholbedarf für die gesamte politische Klasse besteht jedoch nach wie vor, wenn es um andere gesellschaftliche Gruppen geht. In der neuen Bundesregierung ist Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) der Einzige mit migrantischen Wurzeln. Immerhin einer mehr als unter Angela Merkel, aber viel zu wenig in einem Land, in dem bald ein Drittel der Menschen Migrationshintergrund hat.
Mehr als Symbolpolitik
Auch die spezifisch ostdeutsche Kompetenz kommt im Kabinett des Westdeutschen Olaf Scholz zu kurz. Nur Umweltministerin Steffi Lemke und Bauministerin Klara Geywitz wurden in der kommunistischen DDR geboren und sozialisiert. Angesichts der auch 31 Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West wäre mehr gelebte Ost-Kompetenz in der Bundesregierung mehr als Symbolpolitik gewesen.
Man kann die weiterhin bestehenden Defizite aber auch positiv interpretieren - wenn man sie mit der letzten Regierung unter der zwar in Hamburg geborenen, aber in der DDR aufgewachsenen Angela Merkel vergleicht: Kein Kabinettsmitglied hatte zuletzt einen Migrationshintergrund und die einzige ostdeutsche Ministerin trat im Mai 2021 zurück. Ihr Name: Franziska Giffey.
Keine ostdeutsche Senatorin mit Migrationshintergrund
Also jene Sozialdemokratin, die wenige Tage vor Weihnachten 2021 zur Regierenden Bürgermeisterin Berlins gewählt wurde. Sie holte mehr Frauen als Männer in ihren Senat. Stark! Aber niemand stammt aus einer Migrantenfamilie - und das im multikulturellen Berlin mit Menschen aus rund 180 Ländern dieser Welt. Schwach!
Giffeys Personalentscheidungen sind ein Musterbeispiel dafür, wie schwierig die Kunst ist, wichtige politische Ämter nach Quotenkriterien zu besetzen. Ideal wäre in dieser Logik eine ostdeutsche Senatorin mit Migrationshintergrund gewesen.