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PolitikEuropa

Klares Signal an Stalins Nachfolger

Autor und Kolumnist der ukrainischen Redaktion der Deutschen Welle Eugen Theise
Eugen Theise
30. November 2022

Die Einordnung der von Stalin herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine als Völkermord in einer Erklärung des Bundestags war überfällig. Zumal Parallelen zum heutigen Geschehen offensichtlich sind, meint Eugen Theise.

Zu Millionen verhungerten Menschen in der Ukraine zu Beginn der 1930er-JahreBild: picture-alliance/dpa/ITAR-TASS/V. Sindeyev

"Tragödie", "großer Hunger" oder "Völkermord": wenn es um das Verhungern von etwa vier bis sieben Millionen Menschen in der Ukraine vor 90 Jahren geht, ist die Wortwahl nicht nur eine wissenschaftliche oder politische, sondern eine zutiefst weltanschauliche Frage. Wenn Moskau ausschließlich von "Hunger" oder einer "Tragödie" spricht, wird damit ein grausames Verbrechen als Kollateralschaden von Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft verharmlost. Das ist mehr als nur ein Euphemismus. Das ist eine verbrecherische Lüge, die der Kreml beharrlich auf internationaler Bühne vertritt. 

Letztmals war Moskau damit im Jahr 2003 erfolgreich, als es der Begriff "Tragödie" in ein Arbeitsdokument der Vereinten Nationen anlässlich des 70. Jahrestags des Hungermords schaffte. Seitdem unternahm Kiew große Anstrengungen, damit das Andenken an die Opfer des Holodomor - wie der Massenmord durch Aushungern auf Ukrainisch heißt - international nicht durch Euphemismen verunglimpft wird. Diese Menschen starben nicht wegen Dürre oder aufgrund eines politischen Fehlers. Sie mussten sterben, weil sie freiheitsliebende ukrainische Bauern waren, denen der Kreml misstraute.

Hunger als Waffe eines Tyrannen

Indem Stalin sie zu Millionen verhungern ließ, verfolgte der Diktator gleich zwei Ziele: die ukrainische Identität auslöschen, deren Rückgrat in der "Kornkammer Europas" die Bauern waren, und gleichzeitig durch den Export von beschlagnahmtem Getreide die für die Industrialisierung benötigten Devisen zu erwirtschaften. Während die ukrainische Bevölkerung auf dem Land verhungerte, wurden in den Städten Fabriken gebaut. Aus allen Ecken des Sowjetreichs wurden die Arbeiter für die neuen Industriestandorte herangeholt - künftige Proletarier, "neue Sowjetmenschen" ohne nationale Identität.

Als Völkermord bezeichnete dieses Verbrechen bereits vor 70 Jahren der Rechtswissenschaftler Rafael Lemkin. Er - selbst ein Überlebender des Holocaust - machte sich an die juristische Aufarbeitung des Massenmords an den Juden Europas. Es war Lemkin, der für das Völkerstrafrecht den Begriff "Genozid" als Massenmord gegenüber einer Nationalität, einer ethnischen oder Rassenzugehörigkeit formulierte. Lemkin bezeichnete den Holodomor als Genozid vor allem deswegen, weil der Mord an den ukrainischen Bauern der Höhepunkt der Auslöschung der Ukrainer im Sowjetreich war und nicht sein Anfang. Zuvor hatte es bereits Massenerschießungen der ukrainischen Bildungselite gegeben - der Schriftsteller, Wissenschaftler und Lehrer.

Zeit der Ausreden ist vorbei

Doch jahrzehntelang weigerte sich die Politik in Berlin, das Wort Völkermord für dieses Verbrechen zu verwenden. Noch 2018 schloss sich Deutschland einer UN-Erklärung an, in der von "künstlichem Hunger" die Rede war. Die Begründung war rein formalistischer Natur: Man wolle sich den Begriff Völkermord für die Ereignisse der 1930er-Jahre nicht zu eigen machen, da dieser völkerrechtlich erst 1951 festgehalten wurde. Die aktuelle Entschließung des Bundestags entlarvt diese Haltung spätestens jetzt als billige Ausrede. Eine Freundschaft mit der Ukraine, die keinesfalls Russland ärgern durfte, war jahrzehntelang das Mantra der deutschen Politik.

DW-Redakteur Eugen TheiseBild: Privat

Erst am 24. Februar 2022, als der großangelegte russische Angriffskrieg Europa erschütterte, begann das Umdenken in Berlin. Erst mussten deutsche Medien von Kriegsverbrechen und Schandtaten russischer Soldateska in der Ukraine berichten, erst mussten "unbekannte Täter" die Gaspipeline Nord Stream sprengen, bevor der "künstlicher Hunger" endlich zum Völkermord erklärt wurde. Damit ist Deutschland in der Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen endlich dort angekommen, wo das kleine Estland bereits 1993 war.

Die Deutschen wissen wie keine andere Nation, wie wichtig es ist, der Opfer von Massenmorden zu gedenken und die Täter zu benennen. Die Entschließung des Bundestags macht den Holodomor zum Teil einer europäischen Erinnerungskultur. Diese Kultur ist eine tragende Säule im Wertekanon des gesamten Kontinents. Es ist ein wichtiges Zeichen der Solidarität und des Respekts gegenüber dem ukrainischen Volk, das erneut mit Moskaus Terror konfrontiert ist. Heute tötet der Kreml die Ukrainer mit Raketen und bringt sie in Lebensgefahr, indem er zum Wintereinbruch ihre Strom- und Wärmeversorgung zerstört. Es geschieht aus demselben Grund, aus dem Moskau die Ukrainer vor 90 Jahren verhungern ließ.

Ein Signal an den Kremlherrn

Die Einordnung des Holodomor als Genozid ist auch ein wichtiges Signal an Wladimir Putin. Eines Tages werden Historiker, Politiker und vielleicht sogar Richter seinen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine bewerten. Der Bundestag ruft nun die Bundesregierung auf, Russlands verlogenen Narrativen entgegenzuwirken und die Ukraine weiter zu unterstützen. Die Parallelen zwischen dem Holodomor, seiner Leugnung durch Russland und den gegenwärtigen russischen Kriegsverbrechen sind in der Erklärung des Bundestags genauso wichtig, wie die Einordnung als Genozid. Und die Erinnerung an das Verbrechen ist auch ein Verweis darauf, welche Gemeinsamkeit Putin mit Stalin hat: Für beide sind Menschenleben nichts wert.

Die Aufklärung über den Holodomor ist zugleich die notwendige Antwort an diejenigen in Deutschland, die angesichts von Rekordinflation und explodierender Gaspreise immer lauter nach Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau rufen. Als ginge es dem Kreml allein um Geopolitik oder einen vermeintlich bevorstehenden NATO-Beitritt der Ukraine. Und eben nicht um einen erneuten Versuch, die ukrainische Nation auszulöschen.

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