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Politik

Meinung: Sacharow-Preis ist gut, Waffen wären besser

Serhij Rudenko
14. Dezember 2022

Die Auszeichnung des ukrainischen Volkes mit dem Andrej-Sacharow-Preis ist eine wichtige Anerkennung. Doch Putins Krieg gegen die Ukraine kann nur mit Waffen, nicht mit Preisen gestoppt werden, meint Serhij Rudenko.

Das EU-Parlament in Straßburg
Vor dem EU-Parlament in Straßburg wehen ukrainische FahnenBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

Während die gesamte Ukraine von der russischen Armee weiterhin massiv mit Raketen beschossen wird, verleiht das Europäische Parlament am 14. Dezember den Andrej-Sacharow-Preis "Für Gedankenfreiheit" an das ukrainische Volk. Das ist eine wichtige Anerkennung. Doch eigentlich kämpfen Ukrainer jetzt vor allem für ihr Recht auf Leben und weniger für Gedankenfreiheit.

Sie kämpfen dafür, in einem freien und unabhängigen Land zu leben und keine Angst davor haben zu müssen, durch die russische Armee zu Opfern von Mördern und Vergewaltigern gemacht zu werden. Sie kämpfen dafür, so zu leben, dass sich ihre Kinder nicht vor Raketen in Luftschutzbunkern verstecken müssen.

Für dieses Ziel zahlen viele Ukrainer einen sehr hohen Preis. Sie zahlen mit dem Leben derer, die im Krieg sterben oder bereits gestorben sind, und die ebenfalls Träger des Sacharow-Preises sind, aber posthum.

Rückkehr im Zinksarg

Ehrlich gesagt, ich habe nie davon geträumt, den Pulitzer-Preis zu bekommen oder Sacharow-Preisträger zu werden. Aber nun ist es so gekommen.

Der Pulitzer-Preis ging im Frühjahr 2022 an alle ukrainischen Journalisten, "für ihren Mut, ihre Ausdauer, ihr Engagement und ihre Selbstverpflichtung zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung während der gnadenlosen Invasion von Wladimir Putin in ihrem Land", so das Preiskomitee. Der Sacharow-Preis wird dem ukrainischen Volk verliehen, das von Präsident Wolodymyr Selenskyj, anderen gewählten Politikern und der Zivilgesellschaft vertreten wird.

Vermutlich werden sich die Millionen von Ukrainern, die diese hohen Auszeichnungen erhalten haben, nicht mehr lange daran erinnern. Ich bin sicher, dass sie einigen nicht einmal viel bedeuten. Ähnlich verhält es sich mit der Auszeichnung des ukrainischen "Zentrums für bürgerliche Freiheiten" als einem der Friedensnobelpreisträger in diesem Jahr und dem Siegesrausch der ukrainischen Band Kalush Orchestra nach dem Gewinn des Eurovision Song Contests

DW-Autor Serhij Rudenko

Das ist nachvollziehbar. Denn wenn einem die Raketen über dem Kopf fliegen und Millionen Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, ist einem nicht zum Feiern zumute. Auch nicht, wenn Nachbarn in einem verschlossenen Zinksarg von der Front heimkehren und die eigenen Kinder in Luftschutzkellern sitzen müssen. Oder wenn man jeden Raketenangriff auf Kiew, Charkiw, Dnipro, Mykolajiw und Odessa als einen Angriff auf sich selbst empfindet, und wenn Kurznachrichten mit dem Kreuz-Zeichen von Verwandten an der Front einen zum Weinen bringen.

Kampf ums Überleben

Wir leben in einer Realität namens "Krieg", in der der größte Preis nicht Auszeichnungen sind, sondern das Recht auf Leben. Alle jetzigen Träger des Pulitzer- und des Sacharow-Preises aus der Ukraine haben eines gemeinsam: Sie wollen sehnlichst leben und siegen.

Das macht sie immer mutiger, kühner und waghalsiger. Im Verlauf des Krieges ist die Angst allmählich in den Hintergrund getreten. Bei dem Versuch, das ukrainische Volk einzuschüchtern und seiner Zukunft zu berauben, hat Putin sich verrechnet.

Wer zum Fliegen geboren ist, kann nicht kriechen. Die Ukrainer werden bis zuletzt um ihr Land kämpfen. Niemand wird dem Kreml nachgeben. Wir kämpfen für das Recht zu leben, und Russland will uns dieses Recht nehmen.

Die Auszeichnungen, die uns heute in der Welt großzügig zuteil werden, sind natürlich gut und schön. Man denkt an uns, wir werden geschätzt, und wir werden gewürdigt.

Aber das Schlimme ist, dass sich diese Auszeichnungen nicht in neue Lieferungen moderner Waffen aus dem Westen verwandeln lassen. Denn nur so kann das brutale Massaker in der Ukraine gestoppt werden, das Putin entfesselt hat.

Der langwierige Krieg in der Ukraine, den die ganze Welt nun schon seit Ende Februar live mitverfolgt, scheint bei den Zuschauern zu einer Abstumpfung in ihrer Wahrnehmung zu führen. Einige von ihnen verfolgen das Geschehen, als wäre es eine Serie bei Netflix.

Der Krieg in der Ukraine ist kein Kinofilm

Das Gute kämpft gegen das Böse, die Schlachthelden wechseln auf dem Bildschirm, Bilder mit zerstörten Städten huschen an einem vorbei. Das Auge gewöhnt sich an Leid, Tränen und Zerstörung. Der Zuschauer erwacht erst dann wieder, wenn der Hauptschurke erneut damit droht, die ganze Welt mit Atomwaffen zu zerschlagen.

Es ist an der Zeit, dass jeder, der auf dem Planeten Erde lebt, begreift: Russlands Krieg in der Ukraine ist kein Kinofilm. Und: Es ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen die gesamte westliche Zivilisation. Früher oder später wird er jeden treffen.

Wladimir Putin, nach dessen Willen zehntausende Ukrainer rücksichtslos getötet und Wohngebiete friedlicher Städte zerbombt werden, wird wohl kaum selbst damit aufhören. Er hat längst die Grenze überschritten. Er befindet sich auf einem Terrain, in dem es keinen Platz mehr für Mitgefühl und Reue gibt. Stoppen können wir ihn nur gemeinsam.

Serhij Rudenko ist ein ukrainischer Journalist und politischer Kommentator. Er hat mehrere Bücher über ukrainische Politiker veröffentlicht. Er ist Autor von Kolumnen für die DW.

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