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Politik

Der Traum vom "neuen Äthiopien" ist geplatzt

Kommentarbild Ludger Schadomsky
Ludger Schadomsky
6. November 2020

Friedensnobelpreisträger schaffen nicht immer nur Frieden. Der Krieg, der Mitte dieser Woche in Äthiopien begonnen hat, birgt Gefahren, die weit über das Land am Horn von Afrika hinausreichen, warnt Ludger Schadomsky.

Am 10. Dezember 2019 wurde Premier Abiy Ahmed noch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnetBild: picture alliance/AP Photo/NTB scanpix/H. M. Larsen

Nun heißt der Krieg also auch offiziell Krieg. Nachdem hoffnungsvolle Äthiopien-Beobachter Mittwochfrüh noch gehofft hatten, dass es bei einigen klinischen Schlägen bleiben könnte, sprach die militärische Führung dann am Donnerstag gegenüber der Presse schon unverblümt von Krieg. Einem "sinnlosen" zwar, aber einem Krieg allemal.

Auch wenn Ministerpräsident Abiy Ahmed später lieber von "Operationen" sprach: Äthiopien ist im "Bürgerkrieg mit sich selbst", wie viele besorgte Bürger auf Social Media-Kanälen kommentieren. Dazu passen Berichte von massiven Truppenverlegungen aus allen Landesteilen in den Norden.

Der Traum von der friedlichen Koexistenz

Damit ist zweieinhalb Jahre nach dem friedlichen Wechsel in Afrikas zweitbevölkerungsreichstem Staat der Traum von einer friedlichen Koexistenz der Völker innerhalb des föderalen Bundestaates Äthiopien ausgeträumt. Groß, vielleicht zu groß, war die Euphorie über den charismatischen Reformer Abiy im April 2018, dem 2019 noch der Friedensnobelpreis verliehen wurde.

Ludger Schadomsky leitet die Amharisch-Redaktion

Als das Ausland noch feierte, warnten Beobachter bereits vor einem gefährlichen Sicherheitsvakuum, in das ethnische Milizen ungehindert vorstoßen könnten. Vor Sezessionsbestrebungen im Süden und Norden des Landes. Dort wurde der Sturz und die strafrechtliche Verfolgung der alten Eliten durch einen Oromo-Regierungschef als Hexenjagd ausgelegt - der Beginn der Eskalation.

Es geht dabei um alte Rechnungen und neue Verletzungen. Um das beständige Einmischen des Nachbarn Eritreas. Um eine aus Sicht der Bundesregierung illegale Wahl am 9. September, als die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) mit einem Zuspruch von fast 100 Prozent Addis Abeba düpierte. Zuletzt ging es um Bagatellen: Um einen regierungstreuen General, der seinen Posten in Tigray nicht antreten durfte. Und letztlich steht über allem die Frage, ob sich ein Schmelztiegel von 80 und mehr Völkern und Religionen überhaupt zusammenhalten lässt.

Eher fünf nach zwölf

Nun also Krieg. Es lässt sich schon heute konstatieren, dass die Verluste erheblich sein werden. Beide Konfliktparteien sind hoch gerüstet, und es ist längst nicht ausgemacht, wer am Ende die Oberhand behält.

Das Fenster für eine Vermittlung in letzter Minute schließt sich derweil. Es bräuchte jetzt einen kollektiven Kraftakt, um Äthiopien vor dem Schritt in den Abgrund zu bewahren. Es gibt - in normalen Zeiten - traditionelle Mechanismen, in denen religiöse und lokale Führer vermitteln. Doch sind dies längst keine normalen Zeiten mehr, die Verhandlungspositionen beider Parteien liegen diametral auseinander.

Die TPLF fordert (wie übrigens viele führende Politiker im Land und die Europäer auch) einen breit aufgestellten nationalen Dialog. Vor allem aber soll eine Übergangsregierung ohne den derzeitigen Premier die für Ende Mai 2021 angesetzten Wahlen überwachen. Darauf wird sich die Regierung Abiy kaum einlassen - und verhängt stattdessen finanzielle Sanktionen gegen die Regierungsclique der abtrünnigen Region. Das Patt ist kaum aufzulösen.

Äthiopiens Partner mit sich selbst beschäftigt

Und Äthiopiens Partner im Westen - jene Partner, die in völliger Verkennung der Tatsachen Äthiopien bis zuletzt für eine Erfolgsgeschichte hielten? Die Europäer sind mit sich und der Corona-Pandemie beschäftigt. Die USA fallen bis mindestens Ende Januar aus, dazu hat sich der amtierende Präsident Trump in der unseligen Vermittlung im Staudammprojekt GERD so sehr auf die Seite Ägyptens geschlagen, dass man in Addis kaum geneigt ist, Ratschläge aus Washington anzunehmen. Und auch eine Biden-Administration wird zunächst andere Sorgen haben. Bleiben die in Addis Abeba beheimatete Afrikanische Union (AU) und, mit starken Vorbehalten, China und die Golfstaaten mit ihrem erheblichen Einfluss.

Peking hat aus der engen Zusammenarbeit mit der TPLF bis 2018 nach wie vor einen guten Draht nach Mekele. Die Kader aus China sollten jene in Äthiopien nun dazu ermuntern, die Dauerprovokationen zu unterlassen, und an den Verhandlungstisch zu kommen.

Die Zentrifugalkräfte sind gewaltig

Die Regierung in Addis muss im Gegenzug einen Nationalen Dialog anstoßen, der alle relevanten Kräfte, inklusive der Tigrays, mit einbezieht. Themen gibt es genug: Pro und Contra ethnischer Föderalismus, die Dauerkrise in Oromia, Verfassungsreform, Unabhängigkeitsbestrebungen der Südvölker - die Liste ist ellenlang.

Die Alternative wäre angesichts zahlreicher ethnischer Brandherde, die sich leicht zu einem Flächenbrand auswachsen können, die Balkanisierung des 110-Millionen-Einwohner-Landes. Eine solche hätte verheerende Auswirkungen auf die ohnehin instabile Region am Horn von Afrika und damit letztlich auch auf Europa. Man kann nur hoffen, dass der Krieg (!) in Äthiopien in Paris, Berlin und London auch im Corona-Winter wahrgenommen wird.

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