1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Vom Ende einer ambivalenten Haltung

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
24. Februar 2022

Schock am Donnerstagmorgen. Aufgrund des besonderen Verhältnisses der Deutschen zu Russland wollte man sich etwas wie die Invasion der Ukraine bis heute nicht wirklich vorstellen, meint Jens Thurau.

Bild: Thomas Koehler/ picture alliance/photothek

Zu Beginn ein kleiner Exkurs in eine lange zurückliegende Zeit. Ich kam 1983 zum Studium nach Berlin, damals noch eine Mauerstadt. Beim Studium der Politikwissenschaft wurden Seminare angeboten mit dem Titel: "Kritische Solidarität mit der SU". Wobei SU für die damalige Sowjetunion stand. Konnte das wahr sein? War nicht gerade die Mauer quer durch die heutige Hauptstadt ein höchst anschauliches Beispiel dafür, wie rücksichtlos russische oder damals sowjetische Politik war?

Aber schnell musste ich lernen: Der Feind für viele links-orientierte Menschen in Deutschland war nicht Moskau, sondern Washington. Von dort wurden die furchtbaren Kriege in Vietnam, in Mittel- und Lateinamerika geführt. Die Sowjetunion hingeben war fremd. Und hatte nicht die Rote Armee Auschwitz befreit? In jedem Fall wurde aggressives politisches Verhalten von Ost und West sehr unterschiedlich wahrgenommen.  

Wandel durch Annäherung

Maxime der herrschenden (zunächst west-)deutschen Politik war das, was man Entspannungspolitik nannte. "Wandel durch Annäherung" hatte das der sozialdemokratische Vordenker Egon Bahr genannt. Um nicht falsch verstanden zu werden: Es war richtig, mit dem früheren Kriegsgegner im Osten das Gespräch zu suchen, Verträge abzuschließen - vor allem auch, um die Lage der Landsleute östlich des Eisernen Vorhangs, in der DDR, zu verbessern.

DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Zunächst heftig von den Konservativen bekämpft, hat diese Politik von Bundeskanzler Willy Brandt Anfang der 1970er-Jahre viel erreicht. Später wurde dieser Ansatz von Brandts Nachfolgern Helmut Schmidt und Helmut Kohl übernommen. Aber als Schmidt Anfang der 1980er-Jahre fest hinter dem NATO-Doppelbeschluss stand, also dem Angebot weitere Rüstungskontrollgespräche mit dem Osten bei gleichzeitiger Raketen-Nachrüstung im Westen, da verlor er die Gefolgschaft seiner Partei, der SPD.  

Die Friedensbewegung, mächtig und stark unter den jungen Menschen in der damaligen Bundesrepublik, lief Sturm gegen diesen Plan. Der Protest gipfelte in dem Spruch "Raus aus der NATO, rein ins Vergnügen." Von einer potenziellen Gefahr aus Moskau war weit weniger Lautes zu hören.

Gorbatschow, der Liebling der Deutschen

Später dann, im Zuge der deutschen Einheit, war Sowjet-Machthaber Michail Gorbatschow der Liebling der Deutschen. Wesentlich weniger Applaus erhielt der damalige US-Präsident George Bush, der als erster Staatschef der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs der Einheit zugestimmt hatte. Bis Mitte der 1990er-Jahre zogen die vielen russischen Soldaten dann sang und klanglos vom Gebiet der früheren DDR ab.

In Strickweste und Pullover am rustikalen Holztisch - so verhandelten Kohl und Gorbatschow die deutsche EinheitBild: picture-alliance/dpa

Europa, mittendrin das geeinte Deutschland, feierte den Sieg im Kalten Krieg. NATO und EU erweiterten sich Richtung Osten, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, welche Reaktionen das in Moskau auslöste. Marktwirtschaft und Demokratie würden es schon richten - so war der Geist der Zeit. Und tatsächlich wollten ja die Mittelost-Europäer nichts lieber als endlich dazu zu gehören in den reichen Clubs des Westens, nachdem sich der Warschauer Pakt 1991 aufgelöst und sie ihre Freiheit von Moskau gewonnen hatten. Das war und ist ihr gutes Recht.  

Wahlsieg mit einem Nein zum US-Krieg

Noch 2002 gelang dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder, einem engen Freund Putins bis heute, nach zunächst schlechten Umfragewerten überraschend die Wiederwahl mit vor allem einem Wahlkampf-Thema: Seinem Nein zu einer deutschen Beteiligung am US-geführten Angriff auf den Irak. Der war, wie sich später herausstellte, tatsächlich mit Lügen gerechtfertigt worden, aber es ist eben schwer vorstellbar, dass eine klare deutsche Positionierung zu militärischen Aktionen der Russen solch eine Wirkung in Deutschland gehabt hätte.  

Auch in der Zeit danach blieb Deutschland bei seinem noch aus der Zeit der Entspannungspolitik stammendem Kurs gegenüber Moskau: Gespräche, wo immer es geht, auch Geschäfte. Die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 ist seit vielen Jahren Gegenstand heftiger Kritik, nicht nur in den USA, auch in Europa. Die deutsche Politik hielt dennoch daran fest, trotz der Mahnung, sich nicht abhängig zu machen von russischem Gas.

Bundeskanzler Willy Brandt und der sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin unterzeichnen 1970 den Moskauer VertragBild: AP

Kanzlerin Angela Merkel tat jede Kritik daran lange mit dem Hinweis ab, es handele sich um eine "rein privatwirtschaftliche Angelegenheit", eine Formulierung, die auch ihr Nachfolger Olaf Scholz im Dezember noch übernahm. Zuvor, 2013, waren die Anhöraktionen des amerikanischen Geheimdienstes NSA - zu Recht - über Wochen das beherrschende Thema in Deutschland. Sogar das Handy Merkels war ausgespäht worden. Die Moskaus hybride Kriegsführung, Desinformation und die politischen Morde durch russische Geheimdienste im Westen brachten die Deutschen bei weitem nicht so auf. 

Putins Krieg

Es ist wohl eine Mischung aus Frucht und Gleichgültigkeit: Mit Russland legt man sich lieber nicht an - zu nah vor unserer Haustür. All das muss und wird sich nun auf schreckliche Weise ändern. Die Regierung zumindest scheint das begriffen zu haben. Nord Stream 2 geht erst einmal nicht in Betrieb, Bundeskanzler Scholz nennt die Geschehnisse das, was sie sind: "Putins Krieg". Und spricht von einem düsteren Tag für die Ukraine. Für ganz Europa. Weil es eben kein Geschehen weit weg ist, sondern auch uns im Kern betrifft.  

Es bleibt dabei, dass Deutschland angesichts vieler Millionen toter russischer Soldaten und Zivilisten im Zweiten Weltkrieg dem Land gegenüber in der Schuld steht. Genauer: dem russischen Volk gegenüber. Aber nicht seinem von allen guten Geistern verlassenen Herrscher, dem offenbar eine gänzlich neue, eine von Russland dominierte Ordnung Europas vorschwebt. Der Westen muss jetzt zusammen stehen gegen den Aggressor. Denn nichts anderes ist Wladimir Putin.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen