Es ist eine symbolische Wegmarke: Irgendwann in diesen Wochen und Monaten wird nur noch weniger als die Hälfte der Deutschen einer der beiden großen christlichen Kirchen angehören. Die sogenannten Volkskirchen, die man lange als "die großen Kirchen" bezeichnete, bilden dann mit ihren rund 41 Millionen Gläubigen nicht mehr die Mehrheit unter den 83 Millionen Menschen, die in Deutschland leben.
1990 waren das noch 58 Millionen, rund zwei Drittel der Bevölkerung. Diese Betonung soll nicht davon ablenken, dass es heute neben Katholiken und Protestanten auch 4,5 Millionen Muslime, 1,5 Millionen orthodoxe Christen und weit über 100.000 Juden gibt. Und die größten religiösen Neubauten, die derzeit in der relativen Nähe des politischen Berlins heranwachsen, sind ein repräsentativer buddhistischer Tempel und das "House of One" als gemeinsames Dach von Christen, Juden und Muslimen.
Ethikräte an Stelle von Kirchen
Der Trend des Mitgliederschwunds trifft Protestanten und Katholiken gleichermaßen, ja die Kirchen der Reformation sogar noch etwas stärker. Und er hat bei beiden Konfessionen viele Gründe. Mal war es der Solidaritätszuschlag. Mal ist die Kirche politisch zu links oder zu rechts. Mal sind es kirchliche Positionen im Bereich der Sexualmoral oder grundlegende Skandale wie der des sexuellen Missbrauchs. Manche regionale Austrittswelle kann man - Stichwort Köln - an konkreten Namen festmachen.
Aber längst nicht immer, vielleicht sogar eher selten ist der Kirchenaustritt tatsächlich eine Distanzierung, auch wenn man immer wieder hört, dass selbst engagierte Kräfte gehen oder Ehrenamtler wegbrechen. Eher wirkt es so, als ob man einander verloren hat. Das Gefühl von Religion und Glaube oder auch das Gefühl für Religion und Glaube verdunstet. Und das nicht etwa, weil nun alle wie doll Philosophie studieren. Die Welt meint, jede Frage mit Google oder auf jeden Fall mit Ethikräten beantworten zu können.
Und doch ist der Trend dramatisch in Zeiten, in denen große Fragen aufkommen. Sinn-Fragen. Vor gut 20 Jahren waren es die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die Fortschritte in der Stammzellforschung. Heute sind es die Künstliche Intelligenz, die dramatische Herausforderung des Klimawandels, die Grundfragen der globalen und nationalen Verteilungsgerechtigkeit in Zeiten der knapper werdenden Ressourcen. Leider hat Sozialethik, diese so wichtige Wächterfunktion, nicht die größte Bedeutung in den Kirchen.
Vor die (Austritts-)Welle kommen
Und man darf die quälend lange Pandemie, die nicht wenige Experten ja als Vorbote künftiger Herausforderungen sehen, ruhig dazu zählen. All das sind Sinnfragen. Sie drängen zu Fragen nach den ersten und letzten Dingen. Und wenn die Menschen keine Erwartungen mehr an die Kirchen haben, suchen sie Antworten oder Fluchtwege woanders. Oder zelebrieren sich als eigene Religion.
Deshalb ist eine irgendwie verschwommene Religionsfreundlichkeit, die einige Experten aufziehen sehen, noch keine Verheißung. Die verfasste Form von aufgeklärter Religion hat schon ihren Sinn, weil sie der Radikalisierung und Ich-Zentrierung entgegensteht.
Aber sowohl die katholische als auch die evangelische Seite müssen aus Verteidigungshaltungen heraus kommen und andere Akzente setzen. Im Corona-Sprech würde man vielleicht sagen: vor die Welle kommen. Ein Weiter-so-Trotz hilft nicht.
Dazu gehört, sich Verantwortungen zu stellen - und zwar wirklich zu stellen. Als Systeme von Macht, die die Kirchen nach wie vor verkörpern, stehen sie zu Recht stets unter Beobachtung. Und daraus wird Empörung, wenn Macht in Ignoranz und Verblendung umkippt.
Gott zu gendern reicht nicht
Dazu gehören Repräsentanten, die glaub-würdig wirken und mit denen sich die Menschen identifizieren können. Dazu gehört auch intellektuelles Profil und der Mut zu Bildungseinrichtungen, in denen der Geist, auch der Geist Gottes, aufblitzt. Aber Gott nur zu gendern, das reicht nicht, wenn sie einfach weiterhin als Instanz der Macht verwendet wird.
Seelsorge suchen die Menschen heute vielerorts. In Corona-Zeiten und erst recht an Weihnachten boomt die Telefonseelsorge. Bei jedem größeren Unglück sind sogenannte Notfall-Seelsorger oder -Seelsorgerinnen im Einsatz. Sie haben nicht immer was mit Kirchen zu tun. Aber sie verkörpern exemplarisch, dass Seelsorge eher dafür steht, Leid mitzutragen und Last zu teilen, als einfach nur als moralische Anstalt zu erklären, was zu tun oder zu lassen ist. Haben die Kirchen dazu noch die Kraft?
Dann müsste es den Kirchen, die mit Sorge auf die jährliche Entwicklung ihrer Mitgliederzahlen blicken, nicht bange zu sein. Vielleicht hilft ein Blick nach Ostdeutschland, in jene Regionen Deutschlands, in denen die Christen seit vielen Jahrzehnten nur noch eine kleine Minderheit sind. Weit eher als im Westen findet man hier selbstbewusste und heitere Gläubige, die eins nicht sind: bang um ihren Glauben.