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Politik

Die neuen deutschen Besen in Europa

27. November 2021

Neue Besen kehren gut, heißt ein deutsches Sprichwort. Die Nachfolger der "Kompromissmaschine" Angela Merkel wollen die EU neu orientieren. Ob sich das Sprichwort hier bewährt, muss sich noch zeigen, meint Barbara Wesel.

Symbolbild Besen
Gut kehren - was kann die neue Bundesregierung für Europa tun?Bild: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/ZB/picture alliance

Deutschland hat eine "besondere Verantwortung" gegenüber Europa - so steht es im Koalitionsvertrag der voraussichtlich neuen Regierung aus SPD, Grünen und FDP. Und sie will einiges anders machen als die Vorgänger: Härter sein in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, kühner beim Klima, entschlossener gegenüber China und Russland. Das neue Team in Berlin nimmt sich auf der europäischen Bühne viel vor.

Russlands Drohung gegen die Ukraine

Die erste außenpolitische Probe kommt auf den zukünftigen Kanzler Olaf Scholz schneller zu, als er sich wünschen kann: Russlands militärischer Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine ist die bedrohlichste Situation in der Region seit langem. Der Westen hat der Ukraine Schutz zugesichert, aber wird er dafür einstehen? Scholz wird hier in eine Situation geworfen, in der Angela Merkel früher am Verhandlungstisch brillierte. In dieser Krise muss er zu seiner eigenen Form finden.   

Barbara Wesel, DW-Korrespondentin in Brüssel

Wenn seine Regierung Russland gegenüber härter und kompromissloser auftreten will, muss er in den nächsten Wochen eine militärische Gegendrohung durch die NATO, insbesondere die USA, unterstützen. Notfalls muss Scholz zum Falken werden, was die Friedenssucher in den Reihen von Sozialdemokraten und Grünen auf die Probe stellen dürfte.

Letztere sind wiederum in punkto der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream II schärfer als die SPD. Ist die neue Regierung notfalls darin einig, diesen politischen Knüppel gegen Moskau auf den Tisch zu legen? 

Europas Rechtsstaatlichkeit

Europa soll auch schneller und entschlossener handeln, wenn die Rechtsstaatlichkeit bedroht wird, verspricht die Koalition. Das ist bei Ungarn seit gut einem Jahrzehnt, im Fall von Polen seit der Amtsübernahme der PiS-Regierung ständig der Fall. Und ein paar kleinere Nachahmer schwimmen noch im Fahrwasser der populistischen Autokraten in Budapest und Warschau mit.

Hier zeigt sich eine der Schwächen von Angela Merkels Regierung: Sie hatte ein großes Herz und viel Verständnis für die Übergangsschmerzen der osteuropäischen Länder. Aber in diesem Schatten entwickelten sich einige zu Feinden der Demokratie, und diesen Trend zu bremsen, wird im Nachhinein schwer werden. Hier gilt, dass es spät ist, aber noch nicht zu spät. Pressefreiheit, die Unabhängigkeit von Justiz und Institutionen, die Freiheit der Zivilgesellschaft, die Achtung der Menschenrechte sind kein Zierrat, sondern Kernbestand Europas. Hier muss die neue deutsche Regierung schnell Pflöcke einschlagen, auch wenn das in der EU zunächst für Riesenärger sorgen wird.

Schuldenregeln lockern oder nicht?

Christian Linder als neuer Finanzminister wird als Erstes wohl sein arrogantes Auftreten an der Garderobe abgeben müssen, will er Partner unter seinen europäischen Kollegen finden. Da ist zur Zeit sein französischer Kollege, Bruno Le Maire, erfolgreicher. Paris hat gerade einen Freundschaftspakt mit Italien geschlossen - ein Alarmsignal für fiskalische Falken, die aufs Sparen setzen. Denn beide Länder, unterstützt vom übrigen Süden, wollen die Schuldenregeln lockern. Dagegen hat Lindner im Wahlkampf schon heftig die Fäuste geschüttelt. Der Kanzler muss also seinem Finanzminister einflüstern, wie man in der heiklen Schuldenfrage schlaue Kompromisse schmieden kann, die die hehren Grundsätze nicht erschüttern, aber wohl umgehen.

Und der ganze Rest…

So viel mehr steht noch auf der Agenda: Berlin will kühner sein beim Klimaschutz - das wird in der EU begrüßt, aber vom Schrei nach noch mehr Geld für den Osten und die ärmeren Mitgliedsstaaten begleitet sein. Es soll ein faireres Asylsystem geben - daran hat sich selbst Angela Merkel die Zähne ausgebissen. Europa soll gegenüber China, wie überhaupt in der Außenpolitik, mit einer Stimme sprechen - da sprießen die nationalen Interessen wie Unkraut aus dem Boden.

Es ist gut, wenn eine neue Regierung sich viel vornimmt und Veränderungen will. Im Alltag wird auch sie aber mit der Widersetzlichkeit von Partnern, mit der Realpolitik und endlosen Krisen kämpfen müssen. 

Was Olaf Scholz zu Gute kommt, dass er Brüssel aus seiner Ministerzeit kennt und versteht, wie der Laden funktioniert. Große Geduld und eine hohe Frustrationsschwelle konnte er von Angela Merkel lernen. Und wenn seine Regierung nach ein paar Jahren von den guten Vorsätzen und Richtungskorrekturen wenigstens ein paar umsetzen konnte - dann hätte sie Europa schon ziemlich gut gedient.