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Politik

Ungleichheit: Lateinamerikas größtes Problem

Thofern Uta 62 Latin Berlin 201503 18
Uta Thofern
17. Mai 2021

Lateinamerika könnte zu den wohlhabendsten Regionen der Welt gehören. Tatsächlich herrscht eine krasse soziale Ungleichheit. Der Staat allein kann sie aber nicht bekämpfen, meint Uta Thofern.

Verkleidet als Dinosaurier ging ein Chilene am Sonntag zur Wahl für eine Verfassunggebende VersammlungBild: Esteban Felix/AP Photo/picture alliance

Die Ungleichheit hat viele Gesichter. Den obszönen Reichtum einiger sehr weniger gegenüber der Armut der vielen. Die fehlenden Bildungschancen für Kinder, denn Bildung ist teuer in Lateinamerika. Den latenten Rassismus, die Gewalt gegen Frauen, Indigene, Afrolatinos oder Angehörige sexueller Minderheiten, die Kriminalität. Und als Folge all dessen die Migration, aus Zentralamerika und Mexiko in Richtung USA, aus Venezuela nach Kolumbien, Chile oder Peru.

Die Ursachen der Ungleichheit gehen bis in die Kolonialzeit zurück. Die rücksichtlose Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung und das ebenso rücksichtslose Wirtschaftsmodell des Extraktivismus und der Monokulturen haben dort ihre Ursprünge. Doch Spanier und Portugiesen beherrschen Lateinamerika seit zwei Jahrhunderten nicht mehr; es sind unabhängige Staaten, die für die Lage der heutigen Bevölkerung verantwortlich sind. Eine Entschuldigung von der Nation der ehemaligen Konquistadoren zu fordern, wie es Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador getan hat, ist billig, und nur eine Verschleierung seiner eigenen Verantwortung.

Wirtschaften zu Lasten der Natur

Kein Land in Lateinamerika hat es geschafft, eine tragfähige eigene Wirtschaft aufzubauen. Der Reichtum der Rinderbarone von Brasilien sowie Argentinien, Paraguay und Uruguay beruht bis heute auf der gnadenlosen Zerstörung der Natur. Ebenso wie beim Anbau riesiger Monokulturen von meist gentechnisch verändertem Soja oder Weizen handelt es sich um eine Exportindustrie, die wenig Arbeitsplätze und kaum Entwicklung bringt. Ob Bananenplantagen in Ecuador, Zuckerrohr in Honduras oder Avocadopflanzungen in Chile - der Schaden für die Natur ist immens, der Nutzen für die Bevölkerung vergleichsweise gering.

Uta Thofern leitet die Lateinamerika-Programme der DW

Eine ähnlich katastrophale Bilanz ist für den Rohstoffabbau zu ziehen. Mexiko und Brasilien haben zwar eine große Autoindustrie, aber nur als Werkbank für US- und europäische Konzerne; eine nennenswerte eigenständige Industrie gibt es nicht. Brasiliens in Folge des Zweiten Weltkriegs gegründete Flugzeugproduktion Embraer bringt dem 211-Millionen-Einwohnerland zwar Prestige, aber nur 18.000 Arbeitsplätze.

Dabei hätte Lateinamerika die besten Voraussetzungen für einen starken gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine koordinierte Industriepolitik, bessere, als die Europäische Union sie hatte: Einen riesigen gemeinsamen Sprachraum, gigantische Rohstoffvorkommen, die im Verbund sehr viel effizienter und behutsamer genutzt werden könnten als im nationalen Rahmen, großartige natürliche Ressourcen für eine nachhaltige Energiegewinnung, eine junge und bildungshungrige Bevölkerung. Und nicht zuletzt eine gemeinsame Geschichte, in der es zwar regionale Kriege, aber keine Katastrophe wie die beiden Weltkriege gab. Und doch ist es nie zu einem großen lateinamerikanischen Wirtschaftsbündnis gekommen, sondern nur zu weltanschaulich konkurrierenden regionalen Verbünden wie Unasur, Mercosur oder Alianza Pacifica.

Ob rechts oder links - Erfolg hat niemand

Dabei gibt es offensichtlich keinen zwingenden Zusammenhang zwischen politischer Linie und wirtschaftlichem Erfolg: In Kolumbien und Argentinien ist jeweils fast die Hälfte der Bevölkerung von Armut betroffen, obwohl die eine Regierung rechts, die andere links ist - und beide die Schuld auf die jeweils anders ausgerichtete Vorgängerregierung schieben. Weder der bis heute von vielen verehrte rechtsgerichtete Nationalpopulist Juan Perón in Argentinien noch in jüngerer Zeit die charismatischen Linkspopulisten Lula in Brasilien, Rafael Correa in Ecuador oder Evo Morales in Bolivien haben es geschafft, die Wirtschaft in ihren Ländern zukunftsfähig zu machen, von Hugo Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro in Venezuela ganz zu schweigen.

Die Einkünfte aus dem Rohstoffboom zu Beginn dieses Jahrhunderts hätten dafür genutzt werden können, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und den Anschluss an die Weltmärkte zu schaffen, insbesondere durch Investitionen in eine bessere Bildung für alle und damit zugleich in die technologischen Fähigkeiten. Stattdessen gab es vor allem Sozialprogramme, die zwar die Not der Armen lindern, ihnen aber nicht dabei helfen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Um mit einem alten Bild zu sprechen: Statt Angeln und Netze bekam jeder einen Fisch.

Kontrolle durch Gewaltenteilung funktioniert nicht

Diese Form der Klientelpolitik wird durch politische Systeme begünstigt, die den Präsidenten eine starke Machtposition und zugleich die Möglichkeit der Wiederwahl einräumen. Wo die Verfassungen die Macht des Staatsoberhaupts und anderer politischer Organe durch das Verbot der Wiederwahl einschränken, grassiert die Korruption. Wer nur eine Legislatur zur Verfügung hat, interessiert sich naturgemäß weniger für eine nachhaltige Entwicklung und eventuell mehr dafür, in der kurzen Zeit so viel wie möglich für sich selbst herauszuschlagen. Was nicht bedeutet, dass es in anderen Systemen keine Korruption gäbe - der Odebrecht-Skandal lässt grüßen.

Grundsätzlich funktioniert das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle der Staatsgewalten in Lateinamerika eher schlechter als besser, und die Tendenz sie auszuhebeln nimmt zu. Jüngstes Beispiel ist der ebenso charismatische wie autokratische Präsident El Salvadors, Najib Bukele, der nach dem Sieg seines Parteienbündnisses bei der Parlamentswahl als erstes die Verfassungsrichter absetzte - unter dem Beifall weiter Teile der Bevölkerung.

Keine Kultur der Eigenverantwortung

Die jahrezehntelange systematische Entmündigung oder zumindest nicht erfolgte Befähigung der Mehrheit der Menschen in Lateinamerika hat bei vielen eine große Gewöhnung an einen starken Staat mit sich gebracht. Und wenn der starke Staat nicht mehr funktioniert, ist der Ruf nach dem starken Mann oder der starken Frau nicht mehr weit. Das Prinzip der Eigenverantwortung ist nicht eingeübt, Teilhabe im Sinne von Mitwirkung oftmals nicht gelernt.

Seit Wochen demonstrieren vor allem junge Leute in Kolumbien - sie rufen nach einem starken Staat, den sie aber eigentlich ablehnenBild: Guillermo Legaria/Getty Images

Selbst die jüngste emanzipatorische und durchaus informierte Protestbewegung in Kolumbien richtet all ihre Forderungen an "den Staat", den sie zugleich ablehnt. Die große Ungleichheit in diesen wie in allen anderen Ländern Lateinamerikas kann aber nur mit einer gemeinsamen Anstrengung gemildert werden. Dazu gehört politische Mitwirkung ebenso wie die Bereitschaft, den Staat mitzufinanzieren. Trotz seiner Fehler, wegen seiner Fehler - um sie zu verhindern. Der Ruf nach höheren Steuern für die Reichen ist mehr als gerechtfertigt. Aber es gibt nicht genügend Reiche, um langfristig bessere Bildung, ein besseres Gesundheitssystem, eine bessere Polizei, eine bessere Infrastruktur und eine bessere Zukunft für alle zu bezahlen. Ohne solidarisch gestaffelte Beiträge auch der Mittelschicht kann ein Gemeinwesen letztlich nicht überleben. Ohne gezielte politische Mitwirkung, die über den Protest hinausgeht, ist kein anderer Staat zu machen.

"Der Staat bin ich" sollte heute für jeden einzelnen gelten. Dass viele Menschen im gemeinsamen Protest Veränderungen anstoßen können, haben die Entwicklungen in Chile gezeigt. Der Verfassungsprozess dort kann ein Vorbild für Lateinamerika werden - wenn die neue Verfassung gemeinsam gestaltet und danach auch von jeder Chilenin und jedem Chilenen gelebt wird.

Uta Thofern Leiterin Lateinamerika-Redaktionen, Schwerpunkt Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
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