Der Streit um die deutschen Atomkraftwerke ist nur noch ärgerlich. Sie tragen kaum noch etwas zur deutschen Energieversorgung bei. Aber sie treiben die deutschen Koalitionspartner gegeneinander auf, meint Jens Thurau.
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Mehrere Wochen hat dieser Streit die deutsche Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP in Atem gehalten: Wegen der Energie-Versorgungskrise nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine werden Strom und Gas in Deutschland knapp und teuer; wäre es da nicht eine gute Idee, die drei noch am Netz befindlichen deutschen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen? Völlig egal, welche heftige Debatten um die Kernenergie Deutschland jahrzehntelang beschäftigt haben? In einer Ausnahmesituation wie der gegenwärtigen im Interesse des Landes zu handeln, das sollte doch Ziel und Anspruch jeder Regierung sein.
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Schlussstrich von Scholz
Deshalb hat Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD jetzt entschieden: Er beendet den Konflikt zwischen dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck und der wirtschaftsliberalen FDP: Die drei Atomkraftwerke, zwei im Süden des Landes und eines im Norden, bleiben bis Mitte April nächsten Jahres am Netz. Nicht nur zwei wie von der Anti-Kernkraft-Partei der Grünen gewünscht, nicht alle drei noch bis 2024, wie von der kernkraftfreundlichen FDP gefordert. Man kann schon sagen, dass Scholz damit näher an den Positionen der Grünen entschieden hat als an denen der FDP. Denn ein Weiterbetrieb aller drei Kraftwerke bis ins übernächste Jahr hinein hätte riesige Kosten verursacht, ganz abgesehen davon, dass neue, immens teure Brennelemente hätten besorgt werden müssen. Und das alles für eine Energieversorgungsform, die zuletzt mal gerade rund sechs Prozent der deutschen Stromversorgung bereitstellte?
Atomkraft in Deutschland - eine Hassliebe
Erst wurde sie in Deutschland gefeiert, dann verdammt und schließlich verbannt: Die Atomenergie feiert dennoch ein kurzfristiges Comeback - mangels Gas aus Russland. Ein Blick auf ihre wechselhafte Geschichte.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Ein "Atom-Ei" als erster Reaktor
Die erste nukleare Anlage Deutschlands geht Ende Oktober 1957 in Garching bei München in Betrieb. Das wegen seiner Form benannte "Atom-Ei", das zur Technischen Universität München gehört, wird zum Wahrzeichen der Kernforschung und des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2000 wird der Forschungsreaktor abgeschaltet. Er genügt nicht mehr den wissenschaftlichen Anforderungen.
Bild: Heinz-Jürgen Göttert/dpa/picture-alliance
Start der zivilen Nutzung der Atomenergie
Drei Jahre nach Inbetriebnahme des "Atom-Eis" startet die zivile Nutzung der Kernenergie: Das erste Atomkraftwerk erzeugt in Kahl am Main ab 1961 Elektrizität. Es folgen leistungsstärkere Kraftwerke wie Gundremmingen (Foto), dass 1966 den Betrieb aufnimmt. Die friedliche Nutzung der Atomenergie gilt als sicherer Beitrag zur Energiegewinnung - noch.
Bild: Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance
Beginn der Anti-Atomkraft-Bewegung
1973 verleiht der Schock über die Ölkrise der Atompolitik weiteren Auftrieb. Doch der Zeitgeist wandelt sich. In der Bevölkerung werden die Zweifel an der angeblich sauberen Energie immer lauter. Es wächst der Widerstand. Bei Protesten gegen das schleswig-holsteinische AKW Brokdorf liefern sich von 1976 an Demonstranten und Polizisten mehrfach bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen (Foto 1981).
Bild: Klaus Rose/imago images
Symbol des Atomkraft-Widerstands
Hinter dem Slogan "Atomkraft? Nein Danke" mit der lachenden Sonne vor gelbem Hintergrund können sich alle deutschen Umweltschützer versammeln. Ab Mitte der 70er Jahre ist das Logo bei den Anti-Atom-Demonstrationen omnipräsent. Die Idee dazu stammt aus Dänemark, von einer Studentin der Wirtschaftswissenschaften. Der Slogan wird zum weltweiten Export-Schlager.
Bild: Tim Brakemeier/dpa/picture-alliance
Der Schock nach Harrisburg und Tschernobyl
Die Ängste vor der nukleare Bedrohung werden grausame Realität: Am 28. März 1979 ereignet sich im AKW Three Mile Island bei Harrisburg in den USA ein schwerer Atomunfall. Sieben Jahre später, am 26. April 1986, kommt es zur weltweit schwersten Havarie in Tschernobyl in der Ukraine (Foto). Eine radioaktive Wolke zieht über Europa. Tschernobyl wird zum Symbol für die atomare Gefahr.
Bild: Zufarov/AFP/Getty Images
Geburt einer neuen Partei
1980 entsteht in Westdeutschland eine neue Partei: die Grünen. Gegründet wird sie von Linken, Friedensbewegten, Umweltschützern und Atomkraft-Gegnern. Den Einzug in den Bundestag feiern die Grünen Gert Bastian, Petra Kelly, Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf (von links) Ende März 1983 mit einem Marsch zum Parlament in Bonn. Der Kampf gegen die Atomkraft ist einer ihrer Schwerpunkte.
Bild: AP/picture alliance
Wackersdorf: Tragödie, aber auch Triumph
Im bayerischen Wackersdorf soll die zentrale Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Kernreaktor-Brennstäbe entstehen. Bei Krawallen im Frühling 1986 kommen mehrere Demonstranten und ein Beamter ums Leben, hunderte Menschen werden verletzt. Ende Mai 1989 wird der Bau der Anlage eingestellt. Ein erster Triumph für die deutsche Umweltbewegung.
Bild: Istvan Bajzat/dpa/picture alliance
Protest gegen Endlager
Das niedersächsische Gorleben wird zum Symbol für den Kampf um die Atommüllentsorgung. Hier soll der radioaktive Müll der nächsten Jahrzehnte gelagert werden, bis es ein Endlager gibt. Am 24. April 1995 rollt der erste Transport an. Umweltschützer organisieren Straßenblockaden, Aktivisten fesseln sich an die Schienen. Ende November 2011 erreicht der letzte Atommüll-Behälter Gorleben.
Bild: BREUEL-BILD/picture alliance
Rot-grün plant den Ausstieg
Die Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten (SPD) und Grünen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (r) setzte 2001 den Ausstieg aus der Kernenergie durch. Alle 19 deutschen Kernkraftwerke sollten bis 2021 abgeschaltet werden. Im Jahr 2010 hob die Nachfolge-Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel die Vereinbarung auf und beschloss, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern.
Bild: picture alliance
Wendepunkt Fukushima
Jahrzehntelang protestieren Umweltschützer in Deutschland gegen Atommeiler. Doch für nachhaltige Konsequenzen wird nach Harrisburg und Tschernobyl erst eine weitere Nuklearkatastrophe sorgen: Der GAU (größter anzunehmender Unfall) im japanischen Kernkraftwerk Fukushima am 11. März 2011. Viel mehr als in Japan selbst hat die Nuklear-Katastrophe Konsequenzen für die deutsche Atompolitik.
Bild: NTV/NNN/AP/dapd/picture alliance
Merkel treibt Energiewende voran
Einen Monat nach Fukushima verkündet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurzfristig und für einige Beobachter überraschend die Energiewende. Bis Ende 2022 sollen alle deutschen Kernkraftwerke stillgelegt sein. Am 30. Juli 2011 bewilligt der Bundestag in Berlin in einer namentlichen Abstimmung (Foto) das neue Energiegesetz.
Bild: Michael Kappeler /dpa/picture alliance
Atommeiler wird stillgelegt
Viele Jahre lang gab es um das Kernkraftwerk Brokdorf besonders heftige Auseinandersetzungen. Jetzt - nach knapp 35 Jahren Betriebszeit - wird es Ende 2021 abgeschaltet. Der Druckwasserreaktor mit einer Leistung von rund 1400 Megawatt lieferte seit 1986 Strom. Ein Mitarbeiter prüft nochmal das Kontroll- und Steuerungspult im Leitstand des Kernkraftwerks.
Bild: Christian Charisius/dpa/picture alliance
Jubel über das Ende der Kernenergie
Die Atomkraftgegner sind am Ziel und feiern den Ausstieg mit Wunderkerzen. Sie stehen vor dem Kernkraftwerk Grohnde. Nach rund 37 Jahren Laufzeit ist die niedersächsische Anlage endgültig vom Netz gegangen.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Trügerische Idylle
Dort, wo sich früher militante Aktivisten mit Polizisten prügelten, grasen heute friedlich Schafe. Das Gelände des stillgelegten AKW Brokdorf wirkt wie eine Idylle. War es das nun mit der Atomkraft? Nein. Denn Deutschland will sich aus der Energieabhängigkeit Russlands befreien und nicht mehr Präsident Putin ausgeliefert sein, der den Gashahn nach Belieben auf- oder zudreht.
Bild: Georg Wendt/dpa/picture alliance
Ausstieg vom Ausstieg spaltet die Ampelkoalition
Deshalb diskutiert die Bundesregierung lange über eine Verlängerung der Laufzeiten der drei verbliebenen Kernkraftwerke. Doch es gibt Streit. Finanzminister Christian Lindner (FDP) befürwortet eine Kernenergie-Renaissance. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) will nur zwei AKW bereithalten und einen Weiterbetrieb bis Mitte April nur bei Bedarf ermöglichen.
Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa
Ein Machtwort des Kanzlers
Der Streit zwischen FDP und Grünen wird zur Zerreißprobe für die Bundesregierung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) macht erstmals seit Antritt der Ampel-Koalition von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Seine Entscheidung: Die Atomkraftwerke sollen bis maximal Mitte April kommenden Jahres weiterlaufen können. Über eine entsprechende Gesetzesänderung wird der Bundestag entscheiden.
Bild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance
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Kein Ausstieg vom Ausstieg
Zur Erinnerung: Nach einem Beschluss einer früheren Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel aus dem Jahr 2011 sollten alle deutschen Atomkraftwerke bis Ende dieses Jahres stillgelegt werden, die drei Kraftwerke, über die jetzt so viel gesprochen wird, sind die letzten. Merkel traf diese Entscheidung damals unter dem Eindruck der Reaktor-Katastrophe von Fukushima. Aber die Zeiten sind 2022 andere, es ist erlaubt, über alle Möglichkeiten nachzudenken, die Versorgung mit Energie in Deutschland zu gewährleisten.
Es war richtig von Scholz, sich jetzt so zu entscheiden: Ein Weiterbetrieb der drei deutschen Kernkraftwerke über den April nächsten Jahres hinaus hätte den Blick abgewandt davon, was jetzt wirklich wichtig ist: Über viele Jahrzehnte hat sich Deutschland in eine fatale Abhängigkeit von preiswerten Energieimporten aus Russland begeben. Der Traum der deutschen Energiewende war es, durch den Ausbau von Wind-und Sonnenstrom zum Kampf gegen den Klimawandel beizutragen. Bei der Stromerzeugung ist das leidlich gelungen, aber noch immer heizen gut die Hälfte der deutschen Haushalte mit Gas, lange Zeit vor allem aus Russland, und eine Debatte um die Kernenergie versperrt nur den Blick darauf, was jetzt wichtig ist.
Konzentrieren auf das Wesentliche
Deutschland muss die erneuerbaren Energien rasch ausbauen und die Gebäude besser isolieren. Deutschland muss möglichst schnell weg von fossilen Energieträgern, weg von Gas und Öl. Aber so schnell geht das alles nicht. Es müssen Milliarden bereitgestellt werden für Gebäudesanierungen, mittelfristig müssen Gas-Alternativen zu den russischen Lieferungen etabliert werden, die längst weggebrochen sind. Die Bürger müssen mithelfen beim Energiesparen, denn es kann knapp werden mit der Versorgung im nächsten Winter, vielleicht auch noch länger.
Aber die Regierung hat sich jetzt ein paar Wochen lang einen ärgerlichen Streit um die Atomkraft geleistet. Kernkraftwerke werden in Deutschland keinen nennenswerten Beitrag dazu leisten können, wie das Land durch diese Energiekrise kommt. Und deshalb ist es richtig, dass der Kanzler dieses Thema mit einem Machtwort abgeräumt hat.