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PolitikEuropa

Meinung: Erdogan muss sich bewegen

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
6. April 2021

Die europäisch-türkische Ehe ist zerrüttet, kann man sie noch retten? Die EU-Spitzen sehen nach ihrem Besuch beim türkischen Präsidenten eine kleine Chance und sollten sie nutzen, meint Bernd Riegert.

Präsident Erdogan: Welchen Preis will die EU für bessere Beziehungen zahlen? (Archivbild)Bild: Reuters/F. Lenoir

Der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan ist ein pragmatischer Politiker. Er macht das, was seinem Machterhalt und seinen Interessen am besten dient. Mit Werten, gar mit europäischen, hat er nicht viel am Hut. Das unterscheidet ihn kaum von anderen Autokraten in der Welt. Erdogan drischt auf die EU und die USA ein, biedert sich in Moskau oder Peking an, provoziert Zypern und Griechenland, poltert gegen die NATO. Ganz wie es ihm in den Kram passt.

Für die Spitzenvertreter der EU, die am Dienstag mit Erdogan in Ankara gesprochen haben, ist der oft unberechenbare Präsident ein wirklich schwieriger Gesprächspartner. Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, und Ratspräsident Charles Michel konnten die kurzzeitige, ganz leichte und nur oberflächliche Entspannung in den Beziehungen zur Türkei nutzen, um den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Erdogan hat den Streit mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern um Gasvorkommen und Seegrenzen zunächst auf Eis gelegt. Im Gegenzug hat die EU die Türkei nicht mit Sanktionen belegt und bietet Verhandlungen über eine Reform der 25 Jahre alten Zollunion an.

Gegenseitige Abhängigkeit

Die Besucher aus Brüssel, die Erdogan das letzte Mal vor einem Jahr persönlich getroffen haben, bewegen sich dabei in einem sehr komplexen Geflecht aus strategischen Interessen und Abhängigkeiten. Mit der neuen US-Regierung ist sich die EU einig, dass die Türkei als Bollwerk gegen Russland und den Iran vor allem in der Militärallianz NATO weiter gebraucht wird. Deshalb wird die Mitgliedschaft in der Allianz nicht in Frage gestellt und fast alles versucht, um Erdogan nicht noch weiter in Richtung seiner autokratischen Kollegen in Moskau oder Peking zu treiben.

Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Der EU ist klar, dass sie die Türkei braucht, um die Zuwanderung aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Irak und Iran einigermaßen zu begrenzen. Die Türkei wiederum braucht einigermaßen funktionierende Beziehungen zur EU, ihrem größten Handelspartner, und auch zu den USA, um ihre nach Corona lahmende Wirtschaft über Wasser zu halten. Die neue US-Regierung unter Joe Biden erhöht den Druck auf Erdogan. Die Sanktionen wegen Erdogans Ankauf russischer Flugabwehrraketen bleiben in Kraft. Präsident Biden zeigt der Türkei bisher die kalte Schulter, anders als sein Vorgänger Donald Trump. Dem Pragmatiker Erdogan ist klar, dass er ganz ohne Verbündete und Freunde auch nicht bestehen kann, deshalb seine Gesprächsbereitschaft mit der EU - und nicht etwa, weil ihn die Kritik an Menschenrechtsverletzungen oder dem Austritt aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen irgendwie interessieren würde.

Talfahrt stoppen

Seit dem vereitelten Putsch in der Türkei 2016 sind die Beziehungen zur EU auf einer ständigen Talfahrt. Mit nur einem Besuch in Ankara werden die EU-Spitzen nichts reparieren können. Vielleicht können sie zumindest eine Umkehr des Trends einleiten. Für eine "positive Agenda", die Ratspräsident Michel anpreist, ist es noch ein wenig zu früh. Zunächst muss ausgelotet werden, ob eine Rückkehr der Türkei zu demokratischen Standards zumindest in Reichweite sein könnte. Das wird sehr mühsam werden. Entsprechende Gespräche wurde vereinbart.

Allen Beteiligten ist klar, dass die Türkei in ihrer heutigen Verfasstheit der Europäischen Union niemals beitreten könnte. Die Beitrittsverhandlungen haben nie richtig begonnen. Die Türkei erkennt nämlich das EU-Mitglied Zypern nicht an und hält dessen Territorium teilweise besetzt. Politisch korrekt wäre es natürlich, den Forderungen Österreichs und vieler konservativer EU-Parlamentarier zu folgen und die Verhandlungen endlich - nach 16 Jahren Stillstand - abzubrechen. Doch damit wäre niemanden geholfen. So lange Recep Tayyip Erdogan auch nur leichtes Interesse an der Fortsetzung der Gespensterverhandlungen hat, sollte die EU diese Spielkarte im Türkei-Poker nicht aus der Hand geben.

Vielleicht müssen sich Ursula von der Leyen und Charles Michel noch bis 2023 gedulden. Dann will sich Autokrat Erdogan wiederwählen lassen. Ob das, trotz aller Aushöhlung der Wahlgesetze und des Rechtsstaates gelingen wird, ist noch fraglich.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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