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Politik

Propagandistische Grüße in Izmir

DW Gezal Acer
Gezal Acer
2. November 2020

Immer noch versuchen Hilfskräfte Überlebende des Erdbebens in Izmir zu retten. Doch Staatspräsident Erdogan und seine AKP nutzen die Katastrophe nur als Bühne zur Selbstdarstellung, kritisiert Gezal Acer.

Bild: Deniz Barış Narlı/DW

Wie viele Erdbeben muss es in der Türkei eigentlich noch geben? Wie viele Menschen müssen noch unter den einstürzenden Gebäuden begraben werden? Wie viele Leichensäcke braucht es noch, bis die Regierung der Türkei die latente Gefahr von starken Beben endlich verinnerlicht? Doch so lange eine Regierung sich von Tag zu Tag immer weiter von der Wissenschaft entfernt und alles nur noch religiös deutet, so lange werden immer wieder Unschuldige sterben müssen.

Die Türkei ist schon immer ein Erdbebengebiet. In meiner Kindheit habe ich viele Nächte auf Spielplätzen verbracht. Nicht weil ich schaukeln wollte, sondern weil die Stadt wieder einmal von Beben heimgesucht wurde. Deswegen kenne ich die Angst und dieses Gefühl leider nur zu gut. Die Regierung Erdogan müsste eigentlich jeden Cent in eine sichere Infrastruktur investieren. Aber was tut sie stattdessen? Zelte für den Notfall verteilen. Denn das ist billiger und einfacher.

"Inschallah wirst Du gerettet"

Und jetzt diese Szene: Können Sie sich vorstellen, dass ein Politiker, der nur einen Hauch von Empathie und Vernunft in sich hat, einer Rettungshelferin, die gerade mit einem Opfer spricht, das unter den Trümmern liegt, ihr Smartphone aus der Hand reißt? Nur weil die Kameras gerade live sind? Nein? Ich eigentlich auch nicht. Aber in der Türkei ticken die Volksvertreter eben anders. Landwirtschaftsminister Bekir Pakdemirli schnappte sich besagtes Smartphone und rief: "Hallo, ich bin Minister Pakdemirli - inschallah wirst Du gerettet!" Und am Ende durften natürlich die Grüße von Staatspräsident Erdogan nicht fehlen.

Gezal AcerBild: DW

In diesem Moment denkt man sich: "Mann, lass das! Das Opfer braucht dich jetzt gewiss als Letzten!" Verschüttete werden von Helfern nicht mit den Worten ermutigt "Inschallah wirst Du gerettet". Diese Profis sagen jeden Satz mit Bedacht. Jedes Wort dient dazu, dass ein Verschütteter, der um sein Leben kämpft, das Gefühl bekommt: "Die tun alles, damit ich hier lebend rauskomme."

Wer will ausgerechnet in Todesgefahr einen Gruß vom Präsidenten hören? Zumal in einer Stadt, in der dessen Partei seit 18 Jahren keinen Wahlsieg verbuchen konnte, ist das nur Show. Denn eigentlich kann Präsident Erdogan Izmir überhaupt nicht ausstehen. Weder die Menschen, noch ihre Kultur. Das säkulare Leben und die Werte der Stadt an der Ägäis sind anders als im Rest des Landes. Freier. Laizistischer.

Ungläubiges Izmir

Izmir, die Stadt meiner Familie, meine Heimat, ist eine Stadt, die sich nicht an die Lebensverhältnisse der AKP anpasst. Die Frauen hier sind moderner, die Menschen offener, trinken sogar gerne Alkohol. Und die Wähler hier geben und gaben ihre Stimme mehrheitlich immer nur der der sozialdemokratischen CHP - egal wer für diese kandidiert.

Das Motto in Izmir heißt: "Hauptsache nicht die streng religiösen Kräfte, die gegen ein säkuläres Leben sind." Deshalb werden Menschen aus İzmir von der AKP immer als "Ungläubige" beschimpft. Und aus diesem Grund haben viele von Erdogans Anhängern direkt nach dem Beben in den Sozialen Medien gejubelt und sich über die Katastrophe regelrecht gefreut - Izmir habe das verdient! Ja, so schrecklich zynisch können Menschen sein.

Sogar der griechische Ministerpräsident Mitsotakis hat nach dem Erdbeben Hilfe angeboten: "Jedes Menschenleben ist wichtiger als die Meinungsverschiedenheiten, die wir miteinander haben." Solche zutiefst menschlichen Gefühle zeigen in der zerrissenen Türkei nicht einmal mehr die eigenen Landsleute. Die Regierung versucht vielmehr das Erdbeben zu nutzen, um İzmir endlich zu erobern. Warum sonst schickt man gerade jetzt fast das ganze Kabinett in eine Stadt, in der gerade noch versucht wird Menschen zu retten. Sogar der Parlamentspräsident kam vorbei. Aber warum? Was will er da? Kann er wirklich helfen, wenn er doch keine Erfahrung als Retter hat?

Schluss mit der Selbstbeweihräucherung

Wenn Erdogans Regierung wirklich Menschen retten möchte, dann sollte sie einfach die Helfer ihre Arbeit machen lassen. Die Stadt hat einen Oberbürgermeister, der alles Notwendige koordiniert. Das genügt. Anstatt seiner Parteigänger sollte Erdogan besser Helfer, Bergungsgerät und Geld schicken. Aber wenn sie schon kommen, dann sollten sie wenigstens ihre Selbstbeweihräucherung sein lassen.

Die aktuelle Katastrophe unterstreicht wieder einmal, wovon ich schon während der gesamten AKP-Herrschaft überzeugt war: Erdogan wollte noch nie die Gesellschaft einen, sondern immer nur einen Keil zwischen die Säkularen und seine frommen Anhänger treiben. Für ihn zählen nur diejenigen, die jeden Satz mit "Inschallah" beginnen.

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