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Keine Pflicht, eine Impfpflicht zu beschließen

26. Januar 2022

Der Bundestag ist in die Debatte eingestiegen: Müssen sich alle gegen Corona impfen lassen? Marcel Fürstenau kann die Befürworter zwar verstehen, ist aber trotzdem dagegen, weil es zu viele offene Fragen gibt.

Bild: Torsten Sukrow/SULUPRESS.DE/picture alliance

Fast vier Stunden! So lange debattiert das deutsche Parlament selten über ein Thema. Schon das zeigt: Die Sache muss wichtig sein. Und was gibt es derzeit Wichtigeres als den Kampf gegen die Corona-Pandemie? Die meisten werden wohl antworten: nichts. Deshalb ist es gut, wenn sich die 736 Abgeordneten im Deutschen Bundestag so viel Zeit wie nötig nehmen, um über die kontroverse Frage zu reden - und auch zu streiten: Wie hältst Du es mit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht? Soll Deutschland dem Beispiel Österreich folgen?

Darauf hat auch die zum Zeitpunkt der Debatte gerade mal seit 50 Tagen regierende Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) keine klare Antwort. Klar in dem Sinne, dass sie sich im Falle einer Abstimmung über ein Gesetz auf eine eigene Mehrheit verlassen könnte. Kritiker werfen Bundeskanzler Olaf Scholz deshalb vor, schon bei der ersten großen Herausforderung gescheitert zu sein.

Scheinheilige Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz

Wer daraus eine Führungsschwäche des Nachfolgers von Angela Merkel konstruiert, argumentiert allerdings scheinheilig. Vor allem, wenn man im selben Boot sitzt, weil die eigenen Reihen beim emotionalen Thema Corona ebenfalls nicht geschlossen sind. Das betrifft auch die bei der Bundestagswahl 2021 in die Opposition geschickten Christdemokraten.

DW-Korrespondent Marcel Fürstenau ist geimpftBild: DW

Wie es überhaupt mit Ausnahme der Corona verharmlosenden Alternative für Deutschland (AfD) keine Partei gibt, die bei der Impfpflicht einer Meinung ist. Die Uneinigkeit der anderen Parteien ist deswegen aber kein politisches Versagen, sondern Ausdruck verständlicher Nachdenklichkeit. Schließlich geht es bei dieser Entscheidung - ohne jede Übertreibung oder falsches Pathos - um Fragen von Leben und Tod. 

Irren ist menschlich, kann aber auch verwirren

Kaum jemand hat wohl damit gerechnet, dass die Pandemie so lange dauern würde. Erinnert sei an das große Versprechen, mit der schnellen Entwicklung von Impfstoffen werde der Spuk bald vorbei sein. Inzwischen weiß die ganze Welt: Das war ein fataler Irrtum. Weil das Virus ständig mutiert, weil Vakzine viel kürzer und schwächer immunisieren als erwartet. Die gerade ihren globalen Siegeszug vollführende Omikron-Variante steht beispielhaft dafür.  

Vor ihrem Auftauchen haben sich die meisten politisch Verantwortlichen gegen eine Impfpflicht ausgesprochen - auch der Virologe und heutige deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach . Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich ebenfalls vom Ablehner zum Befürworter gewandelt. Ihr Argument und das der vielen anderen, die ihre Meinung geändert haben: Die Impfquote sei zu niedrig. Aber sie liegt - Stand: 26. Januar 2022 - inzwischen bei fast 74 Prozent.

Die Krisen-Kommunikation ist schlecht

Zu Beginn der Pandemie war davon die Rede, die sogenannte Herdenimmunität der Bevölkerung werde mit einer Quote zwischen 60 und 70 Prozent erreicht. Zahlen, die mit jeder Virus-Mutation korrigiert wurden: stets nach oben. Inzwischen ist von mindestens 90 Prozent die Rede. Das mag stimmen, aber die ständig erhöhten Soll-Zahlen haben bei vielen massive Zweifel am Krisen-Management ausgelöst.    

Und jetzt? Steigen zwar die Infektionszahlen auf täglich neue Höchststände, aber die schweren Verläufe nehmen rapide ab und auch ein besonders wichtiger Wert sinkt: die Zahl von Corona-Patienten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser. Mitte Dezember 2021 waren es fast 5000, seitdem hat sich die Zahl halbiert. Warum? Weil Omikron zwar ansteckender ist als ihre Vorgängerinnen, aber weniger gefährlich.

Zu oft wurden Hoffnungen enttäuscht

Inzwischen sagt sogar Deutschlands bekanntester Virologe, Christian Drosten von der Berliner Charité, irgendwann müsse man das Virus "laufen lassen", weil man die Bevölkerung nicht immer wieder nachimpfen könne. Er sagt das zu einem Zeitpunkt, an dem klar ist, dass die zugelassenen Impfstoffe nur sehr wenig gegen Omikron ausrichten können. Trotzdem wird massiv dafür geworben, sich Auffrischungsimpfungen zu holen, sogenannte Booster. Begründung: Das sorge für mildere Krankheitsverläufe.

Wann ein sicheres, wirkungsvolles Vakzin gegen die dominierende Variante auf den Markt kommt, ist offen. BioNTech-Chef Ugur Sahin hofft, dass es im März so weit ist. Aber zu oft wurden Hoffnungen schon enttäuscht, um sich darauf zu verlassen. Was passiert, wenn es dann schon die nächste Corona-Mutante gibt? Und wieder ein neuer Impfstoff benötigt wird?

Der Booster-Druck kann misstrauisch machen

Millionen Menschen erleben, dass sich jemand in der Familie infiziert, im Freundeskreis, auf der Arbeit - oft trotz Booster. Und sie registrieren, dass man sich auf Zusagen nicht verlassen kann. Impfzertifikate sind plötzlich nur noch neun Monate gültig statt zwölf. Genesene verlieren ihren Status schon nach drei statt sechs Monaten. Erst soll eine Auffrischungsimpfung frühestens nach einem halben Jahr erfolgen, inzwischen wurde auch dieser zeitliche Abstand halbiert.

Was erwartet uns dank Omikron?

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All das löst selbst bei vielen geimpften Menschen Bedenken aus und nährt Zweifel. In dieser Gemengelage eine gesetzliche Impfpflicht anzustreben, ist keine gute Idee. Weil nach den bislang gemachten Erfahrungen niemand garantieren kann, dass höhere Impfquoten automatisch zu einem Ende der Pandemie führen. Weil viele lieber Bußgelder zahlen werden, als sich impfen zu lassen. Weil mit einer Flut von Klagen zu rechnen wäre.

Freiwillige Impfungen können auch zum Ziel führen

Nach der ersten Bundestagsdebatte, in der noch kein Gesetzentwurf vorgelegt wurde, beginnt nun die heiße Phase. Die Befürworter wollen ihr Ziel bis Ende März erreichen. Sie wissen die Mehrheit der Corona-müden Bevölkerung hinter sich. Trotzdem sollten sie bei aller verständlichen Ungeduld in Ruhe abwägen. Ein Votum nach Bauchgefühl und Stimmungslage wäre unseriös.

Hier geht es um eine Gewissensentscheidung. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung keinen eigenen Gesetzentwurf vorlegt und die Entscheidung über Fraktionsgrenzen hinweg in die Hände des Parlaments gelegt hat. Und angesichts der weit verbreiteten Unsicherheit sei daran erinnert: Es gibt keine Pflicht für eine Impfpflicht. Man kann auch weiter auf Freiwilligkeit setzen.

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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