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Politik

Erst impfen, dann klagen

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
29. Januar 2021

Der Streit zwischen der EU und dem Impfstoffhersteller AstraZeneca eskaliert. Jetzt ist aber nicht die Zeit für die Diskussion von Schuldfragen. Wir brauchen Impfstoff, keine Strafzahlungen, meint Bernd Riegert.

Bild: picture-alliance/Geisler-Fotopress/C. Hardt

Impfstoff gegen COVID-19 ist das zurzeit knappste Gut der Welt, wertvoller als Gold und Edelsteine. Jeder will es haben. Jeder schaut neidisch auf den Nachbarn, der vielleicht schon mehr hat oder schneller an den Impfstoff gelangt ist, der die Pandemie beenden soll und wahrscheinlich Leben retten kann. Das ist eine menschliche, allzu menschliche Reaktion.

Die Europäische Union hatte die EU-Kommission beauftragt, im Namen aller Mitgliedsstaaten und ihrer 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger bei sechs Unternehmen Impfstoffe einzukaufen. Nun muss die EU erleben, dass einer der Hersteller seinen Lieferverpflichtungen nicht so schnell nachkommen kann wie versprochen. AstraZeneca pocht auf die abgeschlossenen Verträge, die von der EU allerdings ganz anders gelesen werden.

Bevorzugung von Großbritannien?

Die EU hegt den Verdacht, dass ihr ehemaliges Mitglied Großbritannien, das durch die schnellere nationale Zulassung von Impfstoffen ohnehin im Wettlauf vorne liegt, von AstraZeneca bevorzugt wird. Dagegen will die EU mit fragwürdigen Exportkontrollen vorgehen, welche allenfalls die Produktionsketten in der Pharmaindustrie weiter behindern werden. Denn auch Großbritannien oder die USA haben längst Exportkontrollen und auch Ausfuhrverbote erlassen.

Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Man kann das Gebaren von AstraZeneca als unfair oder unrechtmäßig geißeln. Man kann die Firma, die behauptet, aus all dem keinen Gewinn zu ziehen, anprangern oder verklagen. Das bringt nur alles nichts, weil es keine einzige zusätzliche Impfdosis generiert. Wir wollen nicht unser Geld zurück. Wir wollen keine Rücktritte, keinen Handelskrieg mit Großbritannien oder Prozesse sehen. Wir wollen geimpft werden!

Das heißt, die Kapazität der Impfproduktion muss mit allen Mitteln erhöht werden. Die Knappheit muss so schnell wie möglich beseitigt werden. AstraZeneca werden wird dabei brauchen, denn mit zwei Milliarden Dosen in diesem Jahr hat die britisch-schwedische Firma mit Abstand die größten Produktionskapazitäten der Impfstoffhersteller, die bislang weltweit im Rennen sind. Man mag die Unternehmenspolitik von AstraZeneca verwerflich finden. Trotzdem wird man mit der Firma arbeiten müssen. Streit hilft aktuell überhaupt nicht weiter.

Die Karten müssen auf den Tisch

Deshalb ist es richtig, dass die EU-Kommission alle großen Pharmafirmen am Sonntag zu einem Impfgipfel eingeladen hat. Da müssen die Karten auf den Tisch: Wer kann realistisch was in welcher Zeit produzieren? Und es geht nicht nur um die Europäer und Nordamerikaner, sondern auch um den globalen Süden. Insgesamt müssen in diesem Jahr so schnell wie möglich zehn Milliarden Impfdosen hergestellt werden.

Wenn AstraZeneca und andere Hersteller wie Pfizer nicht schnell genug liefern können, dann müssen deren Patente aufgehoben und Lizenzen für die Herstellung an Generika-Produzenten in Indien, Südafrika und sonst wo auf der Welt erteilt werden. Die Weltgesundheitsorganisation und die EU selbst hätten das Recht dazu, diesen Schritt zu gehen. Der französische Sanofi-Konzern wird jetzt den Pfizer-Impfstoff produzieren. Das ist der erste richtige Schritt.

In der Impffrage sollte man auch ideologische Scheuklappen ablegen und noch einmal prüfen, ob nicht auch der russische oder der chinesische Impfstoff in Europa angewendet werden können, wenn diese wirksam und sicher sind. Davon scheinen ja mehr und mehr Länder überzeugt zu sein. Es geht darum, Leben zu retten, nicht darum wer politisch überlegen ist.

Keine Zeit für Schuldzuweisungen

Schuldzuweisungen und Schwarze-Peter-Spiele braucht im Moment niemand. Die Fragen, wer wann was hätte anders machen können oder müssen, können gerne geklärt werden, wenn die Pandemie überwunden und die Welt geimpft ist. Auch die Frage, ob die Impfstrategie der EU oder Deutschlands oder eines anderen Staates gescheitert sei, ist müßig. Jetzt muss gehandelt werden. Wo die Logistik nicht funktioniert, muss nachgebessert werden. Politisch abgerechnet wird später.

Das knappste Gut der Welt muss so schnell wie möglich für alle verfügbar sein. Dass dies am Anfang der Impfkampagne nicht der Fall sein kann, dürfte jedem Menschen bei etwas Nachdenken klar sein. Und dass beim Kampf gegen die Pandemie auch Gefühle, Neid, Angst und Missgunst eine Rolle spielen, ist eigentlich auch keine Überraschung.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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