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Politik

Feiern wir lieber Vielheit statt Einheit

Kommentatorenporträt Ferda Ataman - Journalistin ,Publizistin
Ferda Ataman
3. Oktober 2020

Millionen Menschen aus Einwandererfamilien fühlen sich von der Party ausgeschlossen, wenn Deutschland sein Einheitsjubiläum feiert. Ferda Ataman fragt in ihrem Gastkommentar: Wie schaffen wir eine inklusivere Einheit?

In Deutschlands Klassenzimmern ist Vielfalt schon längst AlltagBild: picture-alliance/dpa/M. Scholz

Wir haben es in Deutschland aufgrund unserer Geschichte nicht besonders mit zivilreligiösen Feiertagen und nationalen Feierlichkeiten. Die meisten Feiertage sind christlich-religiös oder international, wie Neujahr oder der Tag der Arbeit. Der 3. Oktober ist da eine Ausnahme: An diesem einen Tag, am Tag der Deutschen Einheit, feiern wir in Deutschland seit 30 Jahren uns selbst. Aber wer ist dieses "wir"? Um wen geht es an diesem Gedenktag und von wessen Einheit reden wir?

Laut Duden steht der Begriff "Einheit" für eine "in sich geschlossene Ganzheit / Verbundenheit". Das passt ganz gut, denn für viele Menschen aus Einwandererfamilien fühlt sich die Deutsche Einheit wie eine geschlossene Gesellschaft an, bei der sie draußen bleiben müssen. Die "Herstellung der Einheit Deutschlands", die vertraglich zwischen der DDR und Bundesrepublik geregelt wurde, verstanden viele Menschen als Einheit des deutschen Volkes. Und mit diesem "Volk" war kein demokratischer Souverän gemeint, sondern ein ethnischer Club.

Mit völkischem Beigeschmack

Also wird die Deutsche Einheit in der Regel aus einer rein weißen Sicht betrachtet - weiße Ostdeutsche wiedervereint mit weißen Westdeutschen. Dass auf beiden Seiten aber auch Millionen Menschen aus Einwandererfamilien dabei waren, wird meistens vernachlässigt. Unerwähnt bleibt auch, dass die Wiedervereinigung für viele einen völkischen Beigeschmack hatte. Denn nach den Freudentränen entpuppte sich die Wende für Ausländer und People of Color als Zeit der Abwertung. Viele bekamen im Alltag zu spüren, dass sie nicht mehr erwünscht waren. Dabei trugen Migrantinnen und Migranten in beiden Teilen bis 1990 maßgeblich dazu bei, dass jene wirtschaftliche Kraft erarbeitet wurde, mit der die Lasten der Wiedervereinigung überhaupt erst geschultert werden konnten. Trotzdem waren sie ganz klar die Verlierer im vereinten Deutschland.

Gastkommentatorin Ferda AtamanBild: Sarah Eick

Wenig Beachtung findet im Einheits-Rückblick auch, dass die Jahre danach mit rassistischen Ausschreitungen einhergingen. In Ostdeutschland gab es zum Beispiel die Pogrome von Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) oder die tödliche "Hetzjagd von Guben" (1999). Im Westen Deutschlands geschahen unter anderem die Brandanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993). Die Stimmung kippte wieder stark ins völkische. Die Einheit bleibt unvollendet, wenn solche Erfahrungen nicht miterinnert werden.

Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die die Vielfalt der Bevölkerung anerkennt und würdigt. Das bedeutet, dass auch postmigrantische Perspektiven in Schulbüchern, Museen, bei Denkmälern und Staatsakten sichtbar werden müssen. Deutschland muss sich endlich inklusiver zeigen als bisher. "Unity in diversity", dieser Leitsatz, den sich das Einwanderungsland Kanada, aber auch die Europäische Union gegeben hat, ist dafür sehr geeignet. Wir brauchen eine Einheit ohne Einheitlichkeit, dafür eine Gemeinsamkeit in Vielfalt.

Ein neues Einheits-Narrativ

Kurz: Wir brauchen einen 3. Oktober, der ohne Nationalismus und völkischen Firlefanz auskommt. Es ist höchste Zeit, dass aus dem nationalen Einheits-Tag ein demokratischer Vielheits-Tag wird, der die diverse Gesellschaft feiert, die Deutschland heute ist.

Denn "wir" sind längst eine pluralistische Republik. Auch Ibrahim und Trang werden seit der Staatsangehörigkeitsreform aus dem Jahr 2000 als Deutsche geboren. Was uns nach 30 Jahren fehlt, ist ein neues Einheits-Narrativ, das alle mitnimmt und einschließt. Zum Beispiel so: "Unsere Gesellschaft ist von Teilung, Wiedervereinigung und kontinuierlicher Migration geprägt. Was uns alle vereint, ist die deutsche Sprache, die Gesetze und unsere Verfassung. Gemeinsam sind wir Deutschland."

 

Ferda Ataman, geboren 1979 in Stuttgart, ist Journalistin und Autorin. Sie ist Mitbegründerin der  »neuen deutschen organisationen«, einem bundesweiten Zusammenschluss von postmigrantischen Initiativen gegen Rassismus und für Vielfalt. 2019 hat sie das Buch "Hört auf zu fragen. Ich bin von hier" veröffentlicht und den Hashtag #vonhier gestartet, der eine Debatte über Zugehörigkeit in Deutschland in Sozialen Medien ausgelöst hat.

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