Es ist eine päpstliche Wutrede. Nicht wegen der Lautstärke, sondern wegen der Wortwahl. Vor Flüchtlingen auf Lesbos prangert Papst Franziskus erneut die Abschottung Europas an. Zu Recht, meint Christoph Strack.
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Papst Franziskus wählt deutliche Worte. Das Mittelmeer, diese "Wiege zahlreicher Zivilisationen", sei zum "kalten Friedhof ohne Grabsteine" geworden. Er beklagt "Taubheit" für die Nöte des Nächsten, "todbringende Gleichgültigkeit" und "zynisches Desinteresse".
In der nun bald neunjährigen Amtszeit von Papst Franziskus gab es so etwas noch nicht: Zum zweiten Mal führt eine seiner Auslandsreisen auf die griechische Insel Lesbos. Zum zweiten Mal hält er dort eine Rede - an Flüchtlinge und an die Welt.
Mitte April 2016 sprach der Papst nur kurz. "Wir sind gekommen, um die Aufmerksamkeit der Welt auf diese schwere humanitäre Krise zu lenken und ihre Lösung zu erflehen", sagte er damals. Er erläuterte, warum er mit dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel sowie dem höchsten Erzbischof der Orthodoxie das Eiland aufsuchte. Ein Flehen, das unerhört blieb.
"Es ist ein Weltproblem"
Diesmal wirkt alles verzweifelter, wütender als beim ersten Mal. Das bald 85-jährige katholische Kirchenoberhaupt beklagt die europäische Untätigkeit bei der Hilfe für Flüchtlinge und Migranten.
"Wir müssen mit Bitternis zugeben, dass dieses Land wie andere auch, noch unter Druck steht und dass es in Europa immer noch Leute gibt, die so tun, als ginge sie dieses Problem nichts an."
Es sei ein "Weltproblem", sagt Franziskus. Und geht dann zunächst auf das Thema Impfen im Kampf gegen Corona ein. "Wir haben verstanden, dass wir uns den großen Fragen gemeinsam stellen müssen, denn in der heutigen Welt sind bruchstückhafte Lösungen unzureichend."
"Schrecklicher Stillstand"
Beim weltweiten Kampf gegen die Virusinfektion gelinge die Zusammenarbeit wenigstens in Teilen - aber beim Thema Migration sieht der Papst "schrecklichen Stillstand". Nach jeder Katastrophe im Mittelmeer mit vielen Dutzend, gar hunderten Toten ist die Betroffenheit groß. Aber das war's dann auch.
Alle paar Monate kommen Berichte über mutmaßliche illegale Abschiebungen von Flüchtlingen in die Türkei. Vor wenigen Tagen berichtete die "New York Times" davon, dass griechische Grenzschützer einen Dolmetscher der EU-Grenzschutzbehörde Frontex für einen Asylsuchenden hielten, ihn geschlagen und illegal in die Türkei abgeschoben haben sollen.
Noch immer gibt es keine gemeinsame europäische Regelungen zum Asyl und zur Aufnahme von Flüchtlingen. Alle Mitgliedsstaaten scheinen nach dem Motto "Augen zu und durch" zu verfahren. In Deutschland folgt bei Debatten zu diesem Thema rasch der Satz "Wir können doch nicht alle aufnehmen".
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Humane Korridore
Doch darum geht es nicht. Es geht darum, Menschen aus der Not zu holen, vor allem Familien mit Kindern. Sage niemand, das ginge nicht. Das sagt sich so schnell. Und dann kommt gerne der Vorwurf, der Papst tue doch nichts und habe so riesige Paläste.
Zur Erinnerung: Seit fünf Jahren holt die italienische Laienbewegung "Sant' Egidio" gemeinsam mit den evangelischen Kirchen des Landes und den Waldensern Flüchtlinge im Rahmen sogenannter "humanitärer Korridore" aus Lagern im Libanon, in Libyen und im Irak nach Italien.
Ohne staatliche Gelder, komplett spendenfinanziert. Vor Ort werden sie sorgsam ausgewählt, ihre Religion spielt dabei keine Rolle. Häufig sind es Familien mit Kindern oder Menschen, die besondere medizinische Unterstützung brauchen. Schon am jeweiligen Flughafen werden sie von Helferinnen und Helfern erwartet.
Europa, müde und kraftlos?
In den Gemeinden sind Wohnungen vorbereitet, ehrenamtliche Begleitung von Anfang an. In Rom sind es häufig Wohnungen der Kirche, auch des Vatikan. Und gelegentlich lädt Franziskus solche Geflüchtete in den Vatikan, ohne große mediale Begleitung. Er will ihnen zuhören, ihren Weg begleiten.
Mittlerweile führen "humanitäre Korridore" auch nach Frankreich, Belgien und Andorra. Und immer stellen die Aufnahmeländer humanitäre Visa aus. Man mag oft über italienischen Katholizismus lästern - dieses Beispiel zeigt, dass man etwas tun kann.
Aber in vielen Ländern stellt man sich taub. Für Franziskus, den Papst aus Argentinien, ist dieses Europa längst ein müder und kraftloser Kontinent, der seine überkommene Offenheit und seine Wurzeln verloren hat.
Er will das nicht akzeptieren. Deshalb die Wut. Schon in Athen, einen Tag zuvor, hatte er mit Europa und manchen Politikern abgerechnet. Gegen Demokratiemüdigkeit, so der Papst, helfe nur eine gute Politik, die sich am Gemeinwohl ausrichte und sich den Schwächsten verpflichtet fühle. Ob die scharfe Kritik des Papstes wohl irgendjemanden in Brüssel und Europa noch berührt? Man kann daran zweifeln.
Die Hölle brennt - Moria und seine Geschichte
Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist niedergebrannt. Die Lage ist ernst. Doch schon vor dem Brand war die Situation in dem völlig überfüllten größten Flüchtlingslager Europas dramatisch.
Bild: picture-alliance/AP Photo/P. Balaskas
Die Nacht der Brände
In der Nacht zum Mittwoch waren in dem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos gleich an mehreren Stellen Brände ausgebrochen. Daher gibt es die Vermutung, dass die Brände absichtlich gelegt wurden. Einige Lagerbewohner sprachen von Brandstiftung durch Einheimische. Es gibt aber auch Berichte, nach denen Flüchtlinge selbst die Feuer gelegt haben sollen.
Bild: Getty Images/AFP/M. Lagoutaris
Auf der Straße gelandet
Die Bewohner des völlig überfüllten Flüchtlingslagers konnten sich retten, offenbar soll es weder Tote noch Verletzte gegeben haben. Nach Angaben griechischer Medien sind viele Menschen auf Hügel und in Wälder in der Nähe des Lagers geflohen. Laut Berichten von Helfern irren Tausende Menschen durch die Straßen, es gebe kein Essen oder Wasser, die Zustände seien chaotisch.
Bild: Imago Images/Xinhua/P. Balaskas
Lebensfeindlich
Ausgelegt war Moria für 2800 Menschen. Zum Zeitpunkt der Brände lebten dort allerdings rund 12.600 Geflüchtete. Die Lebensbedingungen in dem Flüchtlingslager galten schon vor dem Brand als katastrophal. Wenn man sich dieses Foto nach dem Brand anschaut, wird schnell klar, dass dort in naher Zukunft wohl gar kein menschenwürdiges Leben mehr möglich sein wird.
Bild: Reuters/E. Marcou
Nahe an der Türkei
Das Flüchtlingslager Moria befindet sich im Osten der griechischen Insel Lesbos. Bis zur türkischen Küste beträgt die Entfernung rund 15 Kilometer. Lesbos ist die drittgrößte Insel Griechenlands und hat rund 90.000 Einwohner. Rund 38.000 Menschen leben in der Inselhauptstadt Mytilini, die nur wenige Kilometer von Moria entfernt ist.
Das verpixelte Lager
Wer sich das Flüchtlingslager Moria bei Google Maps aus der Luft ansehen möchte, hat Pech. Das gesamte Lager ist unkenntlich gemacht. Auf Anfrage der Deutschen Welle gab es nur die allgemeine Auskunft "Google selbst verpixelt Satellitenbilder nicht". Stattdessen wird auf Drittanbieter verwiesen, die die Satellitenbilder erstellen. Warum das Lager verpixelt wurde, ist unklar.
Bild: 2020 CNES/Airbus, European Space Imaging, Maxar Technologies
Das unverpixelte Lager
Diese Luftaufnahme - wir haben einen ähnlichen Ausschnitt gewählt - zeigt, dass das Lager sich erheblich ausgedehnt hat. Während auf dem Satellitenfoto von Google Maps das Haus mit den roten Dach noch komplett frei stand, scheint es hier vom Lager nach und nach vereinnahmt zu werden.
Bild: DW/D. Tosidis
Der Blick in die Vergangenheit
Die "Street View"-Aufnahmen der Gegend wurden bereits im Dezember 2011 erstellt. Damals gab es das Flüchtlingslager noch nicht. Stattdessen befand sich dort eine alte Militäranlage. Erst ab Oktober 2015 wurden auf dem Gelände Asylsuchende registriert, bevor sie auf das griechische Festland gebracht wurden.
Bild: 2020 Google
Früher kurz - heute lang
Während damals die Migranten nur kurz blieben - dieses Foto stammt aus dem Oktober 2015 -, verlängerte sich die Verweildauer mit dem EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 deutlich. Seitdem warten die Asylsuchenden hier darauf, auf andere EU-Staaten verteilt - oder abgeschoben zu werden.
Bild: DW/D. Cupolo
Warten, warten... und warten
Durch das EU-Türkei-Abkommen dürfen die Migranten nicht mehr auf das griechische Festland gebracht werden. Dann nämlich würde die Türkei sie nicht mehr zurücknehmen. Da sich die EU-Länder uneins sind, welches Land wie viele Migranten aufnimmt, bleiben sie mitunter lange in dem Lager. Viele Nationalitäten unter schlechten Bedingungen auf engem Raum - kein Wunder, dass es da zu Spannungen kommt.
Bild: DW/D. Cupolo
Wenn Spannungen sich entladen
Die Spannungen entluden sich bereits im September 2016 in gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen auch Feuer gelegt wurde. Damals befanden sich "nur" rund 3000 Migranten in dem Lager. Große Teile des Lagers wurden zerstört. Nur einen Monat später setzten mehrere hundert Migranten aus Protest gegen die lange Bearbeitungszeit im Lager Container der EU-Asylbehörde in Brand.
Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Schwarz
Feuer - und Tote
Im September 2019 gab es einen weiteren großen Brand. Damals fing zunächst ein Olivenhain Feuer, auf den sich das Lager mittlerweile ausgedehnt hatte. 20 Minuten später brach ein weiterer Brand innerhalb des befestigten Lagers aus. Dieses Feuer forderte zwei Menschenleben: eine Frau und ihr Baby. Zu der Zeit hielten sich bereits über 12.000 Menschen in dem Flüchtlingslager auf.
Bild: picture-alliance/AP Photo
Besuch abgebrochen
Im August dieses Jahres besuchte Armin Laschet, Ministerpräsident von Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen, Moria. Eigentlich wollte er auch den sogenannten wilden Teil außerhalb des befestigten Lagers besuchen. Das wurde aus Sicherheitsgründen kurzfristig gestrichen. Zuvor hatte sich die Stimmung aufgeheizt und es hatte "Free Moria" Sprechchöre gegeben.
Bild: picture-alliance/dpa/D. Hülsmeier
Und jetzt?
Ein völlig überfülltes Lager, grausige hygienische und medizinische Bedingungen, ethnische Spannungen - und dann gab es vor kurzem noch die ersten Corona-Fälle. Eine katastrophale Situation. Und das war vor dem Brand. Droht nun die Apokalypse oder ist es vielleicht doch der Startpunkt zu einer neuen menschenwürdigeren Unterbringung? Bislang kann - oder will - niemand diese Frage beantworten.