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Politik

Indien leidet unter einem Mangel an Moral

Weltzeit 1 | 2021 | Ankita Mukhopadyay, Studio Delhi
Ankita Mukhopadhyay
21. Mai 2021

Mit gesellschaftlichen Werten hat Indien schon immer gerungen. Aber in der Corona-Pandemie zeigt sich, wie dringend sie gebraucht werden, meint Ankita Mukhopadhyay.

Weil die Krematorien überlastet sind, werden Verstorbene im Freien verbranntBild: Sajjad Hussain/AFP/Getty Images

Es ist unbestritten, dass die indische Regierung absolut inkompetent mit der COVID-19-Pandemie umgeht. Doch allein der Wunsch nach einem Regierungswechsel hilft nicht weiter. Denn eine entscheidende Rolle in der größten humanitären Krise des unabhängigen Indiens hat auch gespielt, dass sich die ethischen Werte und die Moral des Landes gegenwärtig auf dem Tiefpunkt befinden.

Viele Menschen haben in dieser Pandemie nicht nur ihre Gesundheit eingebüßt, sondern auch haufenweise Geld ausgegeben und ihre Vernunft über Bord geworfen. Wenn man jemanden retten will, gibt es keine Regeln mehr. Die Menschen zahlen bis zu 50.000 Rupien (683 Dollar) für einen Krankenwagen, 100.000 Rupien oder mehr pro Tag für die Aufnahme eines geliebten Menschen in einem Krankenhaus. Wir berappen Schwarzmarktpreise für medizinischen Sauerstoff und antivirale Medikamente. Wie konnte es zu diesem Verlust jeglicher Moral kommen?

Noch mehr Privilegien für die Privilegierten

Indien hatte fast 75 Jahre Zeit, zu einer demokratischen Gesellschaft zu reifen, die die Bedürftigen schützt und über Kasten- und Klassengrenzen hinweg Chancen für alle Menschen schafft. Doch stattdessen haben die Privilegierten noch mehr Privilegien angehäuft und die Armen sind ärmer geworden.

Ankita Mukhopadyay ist Korrespondentin im Studio DelhiBild: Privat

Seit siebzig Jahren wird zum Beispiel eine hochwertige Gesundheitsversorgung nur durch den privaten Sektor bereitgestellt. Und der versorgt hauptsächlich die Privilegierten und ihre Freunde. Als die Pandemie diesen privaten Sektor an seine Grenzen brachte, zogen die Reichen und Privilegierten alle möglichen Strippen für sich und ihre Leute. Die Bedürftigen aber blieben auf der Strecke.

Heute ist der reichste Mann Indiens nicht bereit, auch nur zehn Prozent seines Reichtums einzusetzen, um dem Land zu helfen. Dabei hat dessen kaputtes System es ihm erst möglich gemacht, ein Vermögen im Umfang von einem Viertel das jährlichen Bruttoinlandsprodukts anzuhäufen. Stattdessen rufen Prominente die Bürger des Landes zu Spenden auf, obwohl fast 30 Prozent dieser Menschen unter der Armutsgrenze leben.

Eine Elite, die sich nur Vorteile sichert

Die Pandemie hat auch den groben Mangel an Moral bei den Spitzen von Verwaltung und Polizei offengelegt. Warum ist unsere Elite nicht in der Lage, das Land effizient zu verwalten und unfähige Politiker zur Rechenschaft zu ziehen? Stattdessen befassen sie sich vor allem damit, sich und ihren Kindern Vorteile zu sichern! 

Es ist eine gängige Redensart in Indien, dass bei allem, an dem die Regierung beteiligt ist, der Ablauf mühsam und die Beamten faul sein werden. Das ist so, weil wir ein System aufgebaut haben, das die Kompetenten allesamt zu Inkompetenten gemacht hat. Doch ein Land, das zu einer Fünf-Billionen-Dollar-Volkswirtschaft aufsteigen will (Stand 2019 knapp drei Billionen), muss zunächst einmal Vertrauen in sein System schaffen, bevor es sich noch ehrgeizigere Ziele setzt.

Schluss mit der Suche nach Vorbildern

Die Inder müssen aufhören, nach vermeintlichen Vorbildern zu suchen, um ihrer Realität zu entkommen, und stattdessen beginnen, sich für tatsächliche Reformen einzusetzen. Wir müssen begreifen, dass unser Leben nicht allein durch Geld, gute Abschlüsse, Auswanderung in den Westen, religiöse Gurus oder eine Karriere als Regierungsbeamter besser wird.

Unser Leben in diesem Land hat so viel mehr zu bieten als oberflächliche Ziele. Und es ist an uns, die Möglichkeiten zu entwickeln. Entwicklung ist ein pluralistischer Begriff und fordert eine gemeinsame Anstrengung. Der erste Schritt muss daher sein, unsere föderale Struktur zu schätzen und auf die Stärkung unserer Landesregierungen hinzuarbeiten.

Politik ist keine Bühne für Bigotterie

Das politische Zentrum des Staates, derzeit geprägt von der BJP, ist dazu da, das Land zu führen und zu verwalten. Es sollte nicht die Bühne für abscheuliche religiöse Bigotterie sein. Religiös geprägte Politik wird Indien immer mehr schaden als nützen, weil sie die Nation spaltet. Das Konzept "teile und herrsche" wurde von den Briten benutzt, um Indien nach zwei Religionen aufzuteilen. Um unser koloniales Trauma loszuwerden, sollten wir nicht ausgerechnet auf diesen Pfad zurückkehren. 

Die Regierungspartei muss endlich vorausschauend handeln, sich auf die nächste Welle der Pandemie vorbereiten und vor allem die Bedürftigen schützen. Der erste Schritt hierfür: Impfungen dürfen nicht allein Privileg der Wohlhabenden bleiben.

Richtig ist: Indien braucht einen Wandel, und zwar so schnell wie möglich. Aber bevor wir nach Veränderungen rufen, müssen wir diese Fäulnis in unserer Moral bekämpfen, die alles zerstört, was sich ihr in den Weg stellt - selbst eine neue Regierung.

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Felix Steiner.

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