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Inflation: Demonstrieren statt frieren

9. September 2022

Linke und Rechte protestieren gegen das Krisen-Management der Politik infolge des Ukraine-Kriegs. Die Regierung befürchtet sogar Unruhen. Marcel Fürstenau findet das übertrieben, versteht aber den Unmut vieler Menschen.

Mit bunten Fahnen und Protest-Banner protestiert eine große Menschenmenge auf dem Augustusplatz in Leipzig gegen Krieg und Inflation.
Die Bundestagsfraktion der Linken demonstrierte am 5. September in Leipzig gegen Inflation und Krieg Bild: Jan Woitas/dpa/picture alliance

Wirtschaftsminister Robert Habeck ist in Zeiten des Ukraine-Kriegs und steigender Inflation die neue Angela Merkel: das ideale Feindbild der Alternative für Deutschland (AfD). Bis zum Ende ihrer Amtszeit 2021 hatten sich die Rechtspopulisten auf die damalige Bundeskanzlerin eingeschossen – erst wegen ihrer Flüchtlingspolitik, dann wegen ihrer Corona-Politik. "Merkel muss weg!", lautete das von den Rechtspopulisten befeuerte Motto auf Demonstrationen.

Im September 2022, fünf Monate nach dem Überfall Russlands auf die benachbarte Ukraine, redet sich AfD-Chef Timo Chrupalla in Rage: Immer wieder spricht er von "Habecks Wirtschaftskrieg" und stempelt den Grünen-Politiker stellvertretend für die ganze Bundesregierung zum Sündenbock für die massiv steigenden Preise in allen Lebensbereichen und eine sich abzeichnende Rezession.

"Unser Land zuerst" ist die simple AfD-Kopie von "America first"

"Unser Land zuerst!", heißt der Slogan, mit dem die vom Verfassungsschutz zum rechtextremen Verdachtsfall erklärte AfD zur Großdemonstration am 8. Oktober in Berlin aufruft. Damit knüpft sie gezielt an die Wahlkampagne des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump an. "America first" war eine Kampfansage an den politischen Gegner im eigenen Land, die Demokraten, und den Rest der Welt. Dieser beispiellos rücksichtslose Politikstil – programmatisch und rhetorisch – mündete Anfang 2021 in den Sturm auf den US-Kongress in Washington.

Ähnliche Szenarien in Deutschland befürchtet anscheinend Außenministerin Annalena Baerbock, sollte überhaupt kein Gas mehr aus Russland fließen. Schon im Juli spekulierte sie über mögliche "Volksaufstände" und lieferte damit leichtfertig ein zugespitztes Stichwort, das in rechtsextremen Kreisen Begeisterung ausgelöst haben dürfte. Denn von Volkaufständen träumen die schon lange.

Sturm auf den Reichstag darf sich nicht wiederholen

Vielleicht hatte die Grünen im Moment ihrer unbedachten Äußerung Bilder vom glimpflich verlaufenen Sturm auf das Reichstagsgebäude vor Augen. Auf dem Höhepunkt der Corona-Proteste 2020 stürmte ein wütender Mob die Treppen zum Sitz des deutschen Parlaments hoch, konnte aber von Polizisten zurückgedrängt werden.

Auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser ist schon länger alarmiert: "Natürlich besteht die Gefahr, dass diejenigen, die schon in der Corona-Zeit ihre Verachtung gegen die Demokratie herausgebrüllt haben und dabei oftmals Seite an Seite mit Rechtsextremisten unterwegs waren, die stark steigenden Preise als neues Mobilisierungsthema zu missbrauchen versuchen." Ja, stimmt – aber ein eine selbstbewusste Demokratie wird sich dagegen zu wehren wissen. Und hat das auch schon getan: mit Gegendemonstrationen der Zivilgesellschaft und den Mitteln des Rechtsstaats.

DW-Korrespondent Marcel FürstenauBild: DW

Montagsdemo in Leipzig war der Anfang

Schon der Protest gegen die oft undurchsichtigen und widersprüchlichen Corona-Maßnahmen bestand nicht nur aus Querdenkern, die mit kruden Verschwörungstheorien Stimmung gegen die Regierung machten. Aber je größer das Protest-Potenzial ist, desto mehr zwielichtige Trittbrettfahrer zieht es an. Das war schon bei der Demonstration gegen Krieg und Inflation am 5. September in Leipzig zu sehen, als die rechtsextremistischen Freien Sachsen der Linken in die Quere kommen wollten – zum Glück vergeblich.

Dass zum Auftakt kaum mehr als 3000 Menschen kamen, lässt noch keine endgültigen Rückschlüsse auf die Wucht der nächsten Kundgebungen zu. Die Inflation nähert sich der Zehn-Prozent-Marke, Pleiten von Firmen und Unternehmen nehmen zu – lauter Gründe für ehrlich besorgte Menschen, um gegen steigende Kosten auf die Straße gehen. Und das wollen laut einer Umfrage aus dem Juli 44 Prozent der vom Meinungsforschungsinstitut Insa Befragten "sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit" tun.

Lockerung der Schuldenbremse darf kein Tabu sein

Sollten sie an ihrer Absicht festhalten, dann sicherlich auch und vor allen Dingen wegen des schlechten Krisenmanagements der Bundesregierung. Zwar haben Sozialdemokraten, Grüne und Freidemokraten gerade mit Ach und Krach ein weiteres Entlastungspaket zustande gebracht, aber zentrale Fragen sind in der Koalition weiterhin umstritten: Soll der Gaspreis gedeckelt werden? Wird die Schuldenbremse gelockert, um die Folgen des Ukraine-Kriegs besser abfedern zu können?

Wirtschaft_plus - Wer soll das bezahlen?

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Die Aussichten auf den Herbst und erst recht den Winter sind düster. Auslöser dieser gefährlichen Entwicklung war Russlands diktatorisch handelnder Präsident Wladimir Putin. Aber die vom Westen beschlossenen Wirtschaftssanktionen sorgen leider auch dafür, dass die Preise für russisches Gas durch die Decke gehen und damit indirekt Putins Kriegskasse gefüllt wird. Dass die Linke und die AfD dafür auch die Regierung verantwortlich machen, ist legitim.

Die Stimmung in Deutschland nähert sich dem Gefrierpunkt

Natürlich versprechen sich beide davon auch mehr Zuspruch in Umfragen und bei Wahlen. Vor allem die Linke hat ihn dringend nötig, denn sie liegt im aktuellen Deutschlandtrend bei mickrigen fünf Prozent. Aber die Sorge um die die Zukunft der Partei ist das eine, die um den sozialen Frieden im Land das andere. Und der ist ernsthaft in Gefahr, sollten sich die Schreckensszenarien mit Millionen frierenden und überschuldeten Menschen bewahrheiten. "Heißer Herbst gegen soziale Kälte" heißt deshalb die naheliegende Parole des linken Protests.

Die politisch Verantwortlichen sollten die Worte so verstehen, wie sie gemeint sind: als Ausdruck der Sorge um die eigene Zukunft und Antwort auf flapsige Reaktionen wie die des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. "Wir können auch einmal frieren für die Freiheit", empfahl er den Menschen in Deutschland schon kurz nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs. Vielleicht bereut Gauck seinen lockeren Spruch inzwischen, denn die Stimmung in Deutschland nähert sich dem Gefrierpunkt.  

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland