Zwei der drei noch laufenden deutschen Atomkraftwerke will Wirtschaftsminister Robert Habeck für drei weitere Monate als Notreserve am Netz halten. Eine richtige Entscheidung, meint Jens Thurau.
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Jetzt also doch. Deutschland verlängert den Betrieb der noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke. Wenn auch nur für zwei der drei, das AKW Neckarwestheim und den Meiler Isar in Bayern. Und wenn auch nur im absoluten Notbetrieb. Das Atomkraftwerk Emsland in Norddeutschland soll wie geplant Ende des Jahres vom Netz gehen.
Der Grund für die jetzige Entscheidung ist die Versorgungskrise bei Strom und Gas. Und es sind gerade einmal drei Monate, die die zwei Kraftwerke jetzt länger laufen, als sie sollten. Und dennoch ist es eine Zäsur, vor allem für die Grünen. Und die sind im Moment ein nicht unwichtiger Teil der Regierung.
Das Ende der Kernenergie. Ein Markenkern der Grünen
Für die Grünen war das Ende der Kernenergie in Deutschland lange Zeit eine elementare Existenz-Begründung. Immer wieder war die Rede davon, nicht nur bei den Grünen, dass der Streit um die Kernerenergie in Deutschland, nach jahrzehntelangem heftigem Streit, mit dem Ausstiegsbeschluss von 2011, nach der Reaktor-Katastrophe von Fukushima, endgültig zu den Akten gelegt worden sei. Und vor allem die Grünen hatten sich im Kampf gegen die Kernenergie Anfang der 1980er-Jahre als Partei erst so richtig gefunden.
Doch jetzt ist alles anders, jeder Strohhalm wird gesucht, um sich aus der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu lösen. Auch der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck hat längst neu gedacht. Der Winter kann hart werden, sehr hart. Und so drängt sich ein Weiterbetrieb der verbliebenen deutschen Kernkraftwerke geradezu auf, auch wenn die nur noch sechs Prozent des deutschen Stroms liefern. Zusammen, alle drei. Aber in der Krise wird alles gebraucht.
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Kein Plädoyer für die Kernenergie insgesamt
Um Deutschland durch den Winter zu bringen, ist die Entscheidung wohl richtig. Eine pragmatische Güterabwägung von Regierungspolitikern, die in ihrem Amtseid geschworen haben, Schaden vom Land abzuwenden. Aber darüber hinausführende Überlegungen, an der Kernenergie in Deutschland festzuhalten, wie sie von Oppositionspolitikern geäußert werden, stehen auf einem anderen Blatt.
Sollten die drei noch aktiven Atomkraftwerke länger als drei Monate laufen, bräuchten sie neue Brennelemente, die wiederum am preiswertesten aus Russland zu bekommen wären. An dieser Stelle beißt sich die Katze in den Schwanz. Es kann doch nur darum gehen, bei allem, was die Regierung tut, unabhängig vom Aggressor und Energie-Imperator Putin zu werden. Ein Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke über drei Monate hinaus mit Putins Gnaden kann da nicht überzeugen.
Einziger Ausweg: Die Erneuerbaren Energien
Also nur zwei von drei Meilern, und auch die nur im Notfall. Dass die Kernenergie nicht nur in Deutschland in der gegenwärtigen Energiekrise kaum einen Ausweg bietet, zeigt der Blick nach Frankreich, wo 28 der 56 Kraftwerke derzeit nicht am Netz sind. Unter anderem, weil im Dürresommer das Kühlwasser aus den Flüssen fehlt. Dort wie auch in Deutschland kann nur die Alternative sein: Energie sparen, wo immer es geht - Strom, Gas, Öl. Und die Erneuerbaren Energien im rasanten Tempo ausbauen.
Alles in allem ist der Beschluss von heute richtig: Zwei der drei noch am Netz befindlichen Kernkraftwerke helfen den Deutschen im Notfall über den Winter, mehr nicht. Ein Plädoyer für eine Zukunft der Kernenergie ist das nicht. Aber wer weiß schon, wie lange dieser Beschluss in diesen aufwühlenden Zeiten hält? Mal abgesehen davon, dass der Beschluss des grünen Wirtschaftsministers erst einmal den Segen der gesamten Regierung braucht. Und das ist alles andere als selbstverständlich in diesen Wochen und Monaten.
Atomkraft in Deutschland - eine Hassliebe
Erst wurde sie in Deutschland gefeiert, dann verdammt und schließlich verbannt: Die Atomenergie feiert dennoch ein kurzfristiges Comeback - mangels Gas aus Russland. Ein Blick auf ihre wechselhafte Geschichte.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Ein "Atom-Ei" als erster Reaktor
Die erste nukleare Anlage Deutschlands geht Ende Oktober 1957 in Garching bei München in Betrieb. Das wegen seiner Form benannte "Atom-Ei", das zur Technischen Universität München gehört, wird zum Wahrzeichen der Kernforschung und des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2000 wird der Forschungsreaktor abgeschaltet. Er genügt nicht mehr den wissenschaftlichen Anforderungen.
Bild: Heinz-Jürgen Göttert/dpa/picture-alliance
Start der zivilen Nutzung der Atomenergie
Drei Jahre nach Inbetriebnahme des "Atom-Eis" startet die zivile Nutzung der Kernenergie: Das erste Atomkraftwerk erzeugt in Kahl am Main ab 1961 Elektrizität. Es folgen leistungsstärkere Kraftwerke wie Gundremmingen (Foto), dass 1966 den Betrieb aufnimmt. Die friedliche Nutzung der Atomenergie gilt als sicherer Beitrag zur Energiegewinnung - noch.
Bild: Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance
Beginn der Anti-Atomkraft-Bewegung
1973 verleiht der Schock über die Ölkrise der Atompolitik weiteren Auftrieb. Doch der Zeitgeist wandelt sich. In der Bevölkerung werden die Zweifel an der angeblich sauberen Energie immer lauter. Es wächst der Widerstand. Bei Protesten gegen das schleswig-holsteinische AKW Brokdorf liefern sich von 1976 an Demonstranten und Polizisten mehrfach bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen (Foto 1981).
Bild: Klaus Rose/imago images
Symbol des Atomkraft-Widerstands
Hinter dem Slogan "Atomkraft? Nein Danke" mit der lachenden Sonne vor gelbem Hintergrund können sich alle deutschen Umweltschützer versammeln. Ab Mitte der 70er Jahre ist das Logo bei den Anti-Atom-Demonstrationen omnipräsent. Die Idee dazu stammt aus Dänemark, von einer Studentin der Wirtschaftswissenschaften. Der Slogan wird zum weltweiten Export-Schlager.
Bild: Tim Brakemeier/dpa/picture-alliance
Der Schock nach Harrisburg und Tschernobyl
Die Ängste vor der nukleare Bedrohung werden grausame Realität: Am 28. März 1979 ereignet sich im AKW Three Mile Island bei Harrisburg in den USA ein schwerer Atomunfall. Sieben Jahre später, am 26. April 1986, kommt es zur weltweit schwersten Havarie in Tschernobyl in der Ukraine (Foto). Eine radioaktive Wolke zieht über Europa. Tschernobyl wird zum Symbol für die atomare Gefahr.
Bild: Zufarov/AFP/Getty Images
Geburt einer neuen Partei
1980 entsteht in Westdeutschland eine neue Partei: die Grünen. Gegründet wird sie von Linken, Friedensbewegten, Umweltschützern und Atomkraft-Gegnern. Den Einzug in den Bundestag feiern die Grünen Gert Bastian, Petra Kelly, Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf (von links) Ende März 1983 mit einem Marsch zum Parlament in Bonn. Der Kampf gegen die Atomkraft ist einer ihrer Schwerpunkte.
Bild: AP/picture alliance
Wackersdorf: Tragödie, aber auch Triumph
Im bayerischen Wackersdorf soll die zentrale Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Kernreaktor-Brennstäbe entstehen. Bei Krawallen im Frühling 1986 kommen mehrere Demonstranten und ein Beamter ums Leben, hunderte Menschen werden verletzt. Ende Mai 1989 wird der Bau der Anlage eingestellt. Ein erster Triumph für die deutsche Umweltbewegung.
Bild: Istvan Bajzat/dpa/picture alliance
Protest gegen Endlager
Das niedersächsische Gorleben wird zum Symbol für den Kampf um die Atommüllentsorgung. Hier soll der radioaktive Müll der nächsten Jahrzehnte gelagert werden, bis es ein Endlager gibt. Am 24. April 1995 rollt der erste Transport an. Umweltschützer organisieren Straßenblockaden, Aktivisten fesseln sich an die Schienen. Ende November 2011 erreicht der letzte Atommüll-Behälter Gorleben.
Bild: BREUEL-BILD/picture alliance
Rot-grün plant den Ausstieg
Die Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten (SPD) und Grünen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (r) setzte 2001 den Ausstieg aus der Kernenergie durch. Alle 19 deutschen Kernkraftwerke sollten bis 2021 abgeschaltet werden. Im Jahr 2010 hob die Nachfolge-Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel die Vereinbarung auf und beschloss, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern.
Bild: picture alliance
Wendepunkt Fukushima
Jahrzehntelang protestieren Umweltschützer in Deutschland gegen Atommeiler. Doch für nachhaltige Konsequenzen wird nach Harrisburg und Tschernobyl erst eine weitere Nuklearkatastrophe sorgen: Der GAU (größter anzunehmender Unfall) im japanischen Kernkraftwerk Fukushima am 11. März 2011. Viel mehr als in Japan selbst hat die Nuklear-Katastrophe Konsequenzen für die deutsche Atompolitik.
Bild: NTV/NNN/AP/dapd/picture alliance
Merkel treibt Energiewende voran
Einen Monat nach Fukushima verkündet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurzfristig und für einige Beobachter überraschend die Energiewende. Bis Ende 2022 sollen alle deutschen Kernkraftwerke stillgelegt sein. Am 30. Juli 2011 bewilligt der Bundestag in Berlin in einer namentlichen Abstimmung (Foto) das neue Energiegesetz.
Bild: Michael Kappeler /dpa/picture alliance
Atommeiler wird stillgelegt
Viele Jahre lang gab es um das Kernkraftwerk Brokdorf besonders heftige Auseinandersetzungen. Jetzt - nach knapp 35 Jahren Betriebszeit - wird es Ende 2021 abgeschaltet. Der Druckwasserreaktor mit einer Leistung von rund 1400 Megawatt lieferte seit 1986 Strom. Ein Mitarbeiter prüft nochmal das Kontroll- und Steuerungspult im Leitstand des Kernkraftwerks.
Bild: Christian Charisius/dpa/picture alliance
Jubel über das Ende der Kernenergie
Die Atomkraftgegner sind am Ziel und feiern den Ausstieg mit Wunderkerzen. Sie stehen vor dem Kernkraftwerk Grohnde. Nach rund 37 Jahren Laufzeit ist die niedersächsische Anlage endgültig vom Netz gegangen.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Trügerische Idylle
Dort, wo sich früher militante Aktivisten mit Polizisten prügelten, grasen heute friedlich Schafe. Das Gelände des stillgelegten AKW Brokdorf wirkt wie eine Idylle. War es das nun mit der Atomkraft? Nein. Denn Deutschland will sich aus der Energieabhängigkeit Russlands befreien und nicht mehr Präsident Putin ausgeliefert sein, der den Gashahn nach Belieben auf- oder zudreht.
Bild: Georg Wendt/dpa/picture alliance
Ausstieg vom Ausstieg spaltet die Ampelkoalition
Deshalb diskutiert die Bundesregierung lange über eine Verlängerung der Laufzeiten der drei verbliebenen Kernkraftwerke. Doch es gibt Streit. Finanzminister Christian Lindner (FDP) befürwortet eine Kernenergie-Renaissance. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) will nur zwei AKW bereithalten und einen Weiterbetrieb bis Mitte April nur bei Bedarf ermöglichen.
Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa
Ein Machtwort des Kanzlers
Der Streit zwischen FDP und Grünen wird zur Zerreißprobe für die Bundesregierung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) macht erstmals seit Antritt der Ampel-Koalition von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Seine Entscheidung: Die Atomkraftwerke sollen bis maximal Mitte April kommenden Jahres weiterlaufen können. Über eine entsprechende Gesetzesänderung wird der Bundestag entscheiden.