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Politik

Ein blinder Fleck nicht nur in Frankreich

Luisa von Richthofen +++NUR als Kommentarbild für die App geeignet!+++
Luisa von Richthofen
24. Januar 2021

Ein Buch hat dazu geführt, dass in Frankreich über Kindesmissbrauch in der Familie gesprochen wird. Das war schon lange überfällig, meint Luisa von Richthofen.

In ihrem Buch "La familie grande" beschreibt Camille Kouchner die Taten des StiefvatersBild: Joel Saget/Getty Images/AFP

Camille und ihre Brüder verbringen den Sommer mit ihrer Mutter und dem Stiefvater Olivier Duhamel an der Côte d'Azur. Es ist das Jahr 1988. Tagsüber baden sie nackt, lesen, liegen stundenlang in der mediterranen Sonne. Beim Mittagessen wird debattiert, gelacht. In dieser Umgebung haben sie den Eindruck, sie könnten die Welt neu erfinden. Nur abends fühlt sich die 14-jährige Camille beklemmt. Wenn sie im Bett liegt, hört sich die schweren Schritte ihres Stiefvaters im Flur. Die Tür zum Zimmer ihres Zwillingsbruders geht auf. Und wieder zu. 

Jetzt, mehr als 30 Jahre später, hat Camille Kouchner ein Buch veröffentlicht. Darin beschreibt sie wie Duhamel sich jahrelang nachts an "Victor" - in Wirklichkeit heißt er anders - vergangen hat und wie das ihre Familie zerstört hat. Die Franzosen sind erschüttert. Denn das Tabuthema Inzest ist der letzte blinde Fleck der #metoo Bewegung.

Alle wussten Bescheid

Der Skandal um Duhamel hat Sensationswert. Denn der ist ein mächtiger Mann: Verfassungsexperte und Regierungsberater, Vorsitzender im Universitätsrat der französischen Eliteschmiede Sciences Po. Einer der "Happy few", der Privilegierten, die in einer Pariser Brasserie mit Emmanuel Macron dessen Sieg bei der Präsidentschaftswahl feiern durften.

DW-Redakteurin Luisa von RichthofenBild: DW/P. Böll

Aber um ihre korrupte Elite geht es den Franzosen nicht. Auch nicht um die Mutter, die den Ruf ihres Ehemanns um jeden Preis schützte, und den Kontakt zu ihren Kindern deshalb abbrach. Oder um die lange Liste von Freunden, ein "Who's Who" der Pariser Intelligenzija, die alle Bescheid wussten und wegschauten.

Auch wer kein Zyniker ist, hat in Frankreich schon längst die Hoffnung aufgegeben, dass die Elite des Landes vorbildlich sei. Dafür gab es zu viele Skandale, zu viel in Champagner getränkte Niedertracht. 

Die Familie als Ort der Gewalt und des Schweigens

Nein, der Kouchner-Skandal trifft einen anderen Nerv. Er zeigt, dass die von der Gesellschaft besonders geschützte und eigentlich Geborgenheit vermittelnde Familie auch ein Ort des sexuellen Missbrauchs sein kann - und das viel zu oft ist. Und er zeigt, dass dies in allen sozialen Schichten, sogar in den vermeintlich "besten" Familien passiert.

In den weitaus meisten Fällen geht die Gefahr eben nicht vom fremden Mann auf dem Schulweg aus, vor dem jedes Kind gewarnt wird. Sondern der Täter ist der Vater selbst, der große Bruder oder ein anderer männlicher Vertrauter: ein Onkel, der Großvater, ein Freund der Eltern. Doch in der Familie, in der das Kind sexuelle Gewalt erfährt, herrscht meistens Schweigen. Man wäscht ja keine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit.

Jede Zeugenaussage gibt anderen Opfern Mut

Aber nun bröckelt das Tabu, kommt Licht in die dunkelsten Ecken der Gesellschaft. Jetzt erhält die ungeheurliche, durch eine Umfrage ermittelte Zahl, nach der jede*r Zehnte in Frankreich Opfer von Missbrauch in der Familie war, ein Gesicht. "Ich war 13 Jahre alt...", "Es war mein Bruder...", "Ich war fünf, es war der Bruder meiner Mutter. In einer Sekunde war ich plötzlich hundert Jahre alt", "Ich dachte, es war meine Schuld...". Seit über einer Woche posten Tausende in den Sozialen Netzwerken mit dem Hashtag #MetooInceste. Eine junge Frau, die von ihrem Onkel als Kind mehrfach vergewaltigt wurde, sagte im Fernsehen: "Es ist vielleicht schlimm zu sagen - aber ich freue mich zu sehen, dass ich nicht die Einzige bin. Ich dachte, ich sei verrückt." Genau darum geht es.

Ein Buch allein wird das Problem nicht abstellen. Wichtig wäre vor allem, dass der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen und Kindern nicht mehr verjährt. Denn es kann Jahrzehnte dauern, bis Opfer in der Lage sind, über ihre Erfahrung zu sprechen. Jede Zeugenaussage gibt ihnen mehr Mut dazu. Jedes Buch, jeder Film zeigt einem Kind heute: Es ist nicht normal und es ist nicht deine Schuld, wenn es geschieht. Camille Kouchner ist einen furchtlosen Schritt gegangen. Er war überfällig für ganz Frankreich.

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