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PolitikEuropa

Willkommen in der neuen Realität, Europa!

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
24. März 2022

Die Hilfe, welche die NATO der Ukraine militärisch bieten kann, ist begrenzt. Was folgt aus diesem Krieg in Europa? Die Allianz muss ihre eigene Zukunft und Wehrhaftigkeit organisieren, meint Bernd Riegert.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat deutlich gemacht: Europa muss wieder wehrhaft werden Bild: picture-alliance/dpa/M. Assanimoghaddam

Die NATO muss sich mit einer neuen völlig neuen Sicherheitslage auseinandersetzen. Eine neue Realität, die neue Normalität nennt das Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der russische Versuch, die Ukraine zu unterjochen, katapultiert die Welt gut 30 bis 40 Jahre zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als sich Militärblöcke hochbewaffnet mitten in Europa gegenüber standen. Wenn der Angriffskrieg des russischen Machthabers irgendwann beendet ist, wird die NATO Russland und seine Verbündeten wie Belarus, wieder hinter einem Eisernen Vorhang verschwinden lassen müssen. Eindämmung, Isolation des Gefahrenherdes bestimmen dann die neue Weltordnung, die Wladimir Putin dem Westen aufzwingt.

Die große Frage für die NATO und den globalen Westen wird dann sein: Wie soll man es mit China halten? Die kommunistische Diktatur scheint einen ähnlichen Weg zu gehen wie Putins Russland. Demzufolge muss der Staat, der in Kürze zur größten Wirtschaftsmacht der Erde aufsteigen könnte, ebenfalls eingedämmt und isoliert werden. Die USA und Europa müssen wieder unabhängiger von China werden, wo man seit Jahrzehnten billig produzieren lässt, eigene Produkte verkauft und von wo existenzielle Rohstoffe bezogen werden. Angezeigt ist eine Ent-Globalisierung oder Rückabwicklung der internationalen Vernetzung, die in den zurückliegenden 40 Jahren gewollt und gefördert wurde.

Neue Strategie nötig

All das muss die NATO in ihrer neuen Strategie, die bis zum nächsten Gipfeltreffen in Madrid im Juni entwickelt werden soll, berücksichtigen. Und das alles funktioniert nur, wenn im Weißen Haus ein Präsident sitzt, der auch nach 2025 Europa und der transatlantischen Beistandsverpflichtung so zugewandt ist wie Joe Biden. Man mag sich gar nicht vorstellen, was los wäre, würde heute noch Donald Trump die Schalthebel in Händen halten. Russlands Aggression führt Europa vor, dass die USA unverzichtbar sind.

DW-Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Die Sanktionen gegen Russland und Belarus werden auch nach einem hoffentlich bald zu erreichenden Ende des Krieges Bestand haben. Das Ziel muss bleiben, die russische Wirtschaft und Gesellschaft handlungsunfähig zu machen, zumindest so lange wie das System Putin existiert. Auf die NATO kommen daher jetzt gewaltige Aufgaben zu. Es ist nicht mit der Verlegung von ein paar Tausend Truppen und vier neuen Kampf-Bataillonen in vier Staaten am östlichen Rand des Bündnisgebietes getan.

Die NATO wäre heute nicht der Lage, einen massiven Angriff Russlands zu Lande oder zu Wasser schnell zurückzuschlagen. Zweifel kommen auf, ob die nukleare Abschreckung, das Kernelement der Machtbalance im Kalten Krieg, heute noch funktioniert. Wenn im Kreml jemand herrscht, dem es vielleicht egal ist, dass derjenige, der als Erster Atomwaffen einsetzt, als Zweiter stirbt, dann funktioniert Abschreckung nicht.

Zu den Waffen

Auf die NATO, die EU und den Westen kommt eine gewaltige Aufrüstung und Verstärkung der Armeen zu. Die ersten Staaten, Deutschland zum Beispiel, haben das erkannt und eine Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben angekündigt. Jetzt muss man ehrlich sein und auch sagen, dass dieses Geld in den Wiederaufbau einer Territorialarmee mit Infanterie, Panzern, Artillerie und schlagkräftiger Luftwaffe fließen muss. Das wird ein immenser finanzieller und gesellschaftlicher Kraftakt, der sich im Alltag der Menschen auswirken wird.

Mit einer mäßig motivierten Berufsarmee wie heute wird das kaum zu schaffen sein. Deutschland und andere Staaten könnten gezwungen sein, die Wehrpflicht wieder einzuführen, um das nötige Personal und die Reserve für eine wirkungsvolle Abschreckung auszubilden. Das hört sich an, wie ein Ruf aus dunkler Vergangenheit, die man überwunden glaubte. Leider ist das die neue Realität. Für die NATO ist der Schuldige klar: Es ist Putins Krieg. Die Schlussfolgerung kann daher eigentlich nur lauten: Putin muss weg.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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