Nicht nur Rechtsextremisten sind gefährlich
15. Juni 2021Hanau, Halle, Walter Lübcke - Namen deutscher Städte und eines ermordeten Politikers, die für das entsetzliche Ausmaß von Rechtsextremismus und Antisemitismus seit 2019 stehen. Beim Massaker in Hanau starben neun Menschen mit Migrationshintergrund, dem gescheiterten Angriff auf die vollbesetzte Synagoge von Halle fielen zwei Menschen außerhalb des jüdischen Gotteshauses zum Opfer. Und der Christdemokrat Lübcke wurde auf seiner Terrasse erschossen, weil dem Täter das Engagement seines Opfers für Flüchtlinge verhasst war.
Vor allem diese Taten sind es, über die zurecht viel geredet und berichtet wird, wenn es um die vielfältigen Gefahren für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt geht. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass der deutsche Innenminister Horst Seehofer zuerst daran erinnert, als er in Berlin den aktuellen Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) präsentiert. An seiner Seite der Präsident des Inlandsgeheimdienstes, Thomas Haldenwang.
Geistige Brandstifter: die Neue Rechte
Auch der seit 2018 amtierende Nachfolger des umstrittenen Hans-Georg Maaßen zeigt stärker denn je klare Kante gegen jede Form des Rechtsextremismus und Antisemitismus. Diese neue Entschlossenheit schlägt sich auch darin nieder, dass nun verstärkt jenes diffuse Milieu in den Blick genommen wird, dass der BfV-Chef "Brandstifter" nennt: die sogenannte Neue Rechte.
Dazu rechnet Haldenwang Leute wie den Verleger Götz Kubitschek und dessen Institut für Staatspolitik. Diese pseudointellektuell daher kommende Denkfabrik fungiert geschickt als Scharnier zwischen Erzkonservativen und Rechtsextremisten aus dem Lager der Alternative für Deutschland (AfD). Das macht sie so gefährlich, weil die Grenzen zwischen demokratischen und demokratiefeindlichen Ansichten fließend sind. Weshalb es auch nötig ist, genau hinzuschauen.
Bei Umgang mit der AfD ist noch Luft nach oben
Allerdings muss der Verfassungsschutz aufpassen, den Bogen nicht zu überspannen. Denn nicht alles, was rechts ist, ist gleich extremistisch. Das gilt auch für die AfD, die in allen deutschen Länderparlamenten vertreten ist und bei der Bundestagswahl im September wieder auf ein Ergebnis im zweistelligen Prozentbereich hoffen darf. Wie ungeschickt das BfV im Umgang mit den Rechtspopulisten noch immer agiert, zeigte sich im März, als es die Partei offiziell zum Verdachtsfall erklären wollte.
Dummerweise berichteten einige Medien vorab darüber - es handelte sich wohl um eine gezielte Indiskretion der Behörde, gegen die sich die AfD nachvollziehbar gerichtlich wehrt. Künftig sollte der Verfassungsschutz solche Manöver vermeiden - im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit. Und um der AfD und Anderen keine Anlässe zu bieten, sich als Opfer staatlicher Willkür zu inszenieren.
Wachsende Gefahr islamistischer Anschläge
Von diesem Lapsus abgesehen kann sich die Bilanz aber durchaus sehen lassen. Der 360-Grad-Blick auf alle Phänomene verfassungsfeindlicher Bedrohungen funktioniert zunehmend besser. Der BfV-Präsident trifft den Kern, wenn er sagt: "Niemand darf linksextremistische Gewalt verklären." Auch diese Szene wird immer gewalttätiger, was sich in Brandanschlägen und mitunter lebensgefährdenden Attacken auf politische Gegner einschließlich der AfD manifestiert. Diese Entwicklung vollzog sich wegen der Fokussierung auf den erstarkenden Rechtsextremismus weitgehend unter dem Radar der medialen Öffentlichkeit.
Gut, dass der Verfassungsschutz auch dieses Bedrohungspotenzial richtig einschätzt. Das gilt ebenso für den Islamismus. Ein Anschlag wie der von Anis Amri auf einen Berliner Weihnachtsmarkt 2016 mit zwölf Toten kann sich jederzeit wiederholen. Mit nachvollziehbarem Unbehagen registrieren die Sicherheitsexperten die Zeitenwende in Afghanistan. Durch den Abzug der internationalen Truppen einschließlich der Bundeswehr sind die Taliban wieder auf dem Vormarsch. Dadurch könnten sich auch Islamisten in Deutschland ermuntert fühlen, ihrem religiös verbrämten Hass auf eine freie Gesellschaft mit Anschlägen neuen Nachdruck zu verleihen.
Corona-"Querdenker" nicht überwerten
Große Sorgen macht sich der Verfassungsschutz außerdem über die schwer einzuschätzende "Querdenker"-Bewegung, hervorgegangen aus dem Protest gegen die staatliche Corona-Politik. Innenminister Seehofer findet es bedrohlich, dass Rechtsextremisten und Antisemiten dadurch "Anschluss an das bürgerliche Spektrum" finden. Dass deshalb die große Mehrheit der Demonstranten mit wehenden Fahnen ins extremistische Lager abdriftet, darf allerdings bezweifelt werden. Dafür fehlen bislang überzeugende Belege.
Vereinzelte Kontakte von Corona-Verharmlosern oder gar -Leugnern zu verfassungsfeindlichen Organisationen sollten also nicht zu einem Massenphänomen hochstilisiert werden. Damit wird die Bedeutung und der Einfluss solcher Leute überbewertet. Innenminister Seehofer scheint sich dieses Risikos bewusst zu sein. Die Corona-Politik müsse besser erklärt werden, empfiehlt er bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes mit einem Schuss Selbstkritik an den kommunikativen Fähigkeiten der Bundesregierung, der er selbst angehört.