"Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern" überschrieb Wladimir Putin sein 5000 Worte umfassendes Werk und schickte gleich noch ein längliches Video-Interview hinterher, offenbar von einem Mitarbeiter seiner Pressestelle geführt. Das gab es noch nie.
Des Kremls neue "Geschichte" der Ukraine
In Artikel und Video rekapituliert Putin detailliert seine Lieblingsideen: so etwas wie ein eigenständiges ukrainisches Volk gebe es nicht; es sei eins mit dem russischen Volk; der ukrainische Staat sei ein künstliches Konstrukt, ein historischer Zufall und man sollte Russland dankbar sein, dass es seine Existenz erlaube. Laut Putin war die Amtsenthebung des (Moskautreuen) Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014 der Höhepunkt eines Jahrzehnte alten westlichen Plans, in der Ukraine etwas zu schaffen, was Putin ein "Anti-Russland" nennt - um Russland gut in Schach zu halten. Seit 2014 sei die Ukraine nicht souverän, sondern stehe unter "externer Verwaltung" - ein Codewort für die USA mit der EU als ihrem Vasallen. Diesen Zustand wird Moskau nicht tolerieren. Und es gibt auch Millionen Ukrainer, die diesen Zustand nicht mögen und sich nach der russischen Umarmung sehnen.
Putins Artikel trägt eindeutig den Stempel der Überzeugungen russischer Geheimdienste: eine Mischung aus imperialistischem Messianismus, dem festen Glauben, dass Geld die Welt regiert und bizarren Verschwörungstheorien. Soziale Medien in Russland verrissen Putins Stück schon in den ersten Stunden nach seiner Veröffentlichung. Historiker, Journalisten und Soziologen fanden jede Menge Widersprüche, logische Fehler und falsche Behauptungen darin. Vielleicht brachte das seine Berater dazu, dem Präsidenten zu einem Erklärvideo zu raten. Der Beitrag zeigte außerdem erneut, dass es für Putin kein wichtigeres Thema gibt als die Ukraine. Eine erneute Welle von COVID-Infektionen im Land, die instabile Wirtschaftslage, die Bedrohung durch die Taliban in Zentralasien - all diese Themen kommen auf Putins Agenda erst nach der Ukraine.
Putin ist gekränkt
Aber warum jetzt? Putin betrachtet Politik häufig durch die Brille persönlicher Beziehungen und ist berüchtigt für seine Sensibilität gegenüber eingebildeten oder realen Beleidigungen. Offensichtlich ist er sehr sauer auf den ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Und kürzlich stellte er Viktor Medwedschuk, einen pro-russischen Politiker und Geschäftsmann in der Ukraine, unter Hausarrest, obwohl er sogar der Pate von dessen Tochter ist. Medwedschuk ist Vorsitzender der Kreml-nahen Partei "Opposition Platform - For Life", die schon seit 2014 gegen pro-westliche Aktivitäten der ukrainischen Führung opponiert. Selenskyj nennt er niemals beim Namen, nicht mal, wenn er nach einem möglichen Treffen mit ihm gefragt wird. Und genauso weigert er sich beständig, den Namen Alexej Nawalny auszusprechen. In Putins kryptischem Universum aus Signalen und Zeichen ist das ein Ausdruck extremer Feindseligkeit. Immer wieder beleidigt er Selenskyj, indem er sagt, er werde "die ukrainische Führung" nur treffen, wenn sie "meinen Artikel lesen".
Scheinbar ist Selenskyj für Putin die Inkarnation genau dieses "Anti-Russland", dass der heimtückische Westen in der Ukraine aufbaut und von dem Putin in seinem Text verspricht, es zu bekämpfen.
Putin leugnet die Legitimität der gesamten politischen Klasse der Ukraine. Und kommt immer wieder zu der einen Idee zurück: die ukrainische Bevölkerung ist das eine und die ukrainische Führung das andere. Wir (also das Russland, so wie Putin es sieht) lieben die Bevölkerung, aber betrachten die ukrainische Führung nicht als Politiker, sondern als Marionetten des Westens. Nur: zig Millionen Ukrainer haben ihre Präsidenten und die Mitglieder ihres Parlamentes demokratisch gewählt. Es kommt Putin nicht in den Sinn, dass er sie mit seinem herablassenden Ton eines "guten Kolonialisten" verletzt. Seit dem ersten Tag der orangenen Revolution demonstrierte er seine komplette Unfähigkeit zu verstehen, dass Menschen einen freien Willen haben und eigenständig politisch partizipieren können. Selbst die Dutzenden Toten, die in der Konfrontation mit dem Regime Janukowitsch im Februar 2014 ums Leben kamen, konnten ihn keines Besseren belehren.
Die NATO ist immer noch der Erzfeind
Putin ist offensichtlich auch besorgt über die zunehmenden Aktivitäten der Nato am Schwarzen Meer und die aktive Zusammenarbeit der Ukraine mit dem Bündnis. Also wendet er sich an den Westen, der aus seiner Sicht die Ukraine "regiert". Den Europäern, vor allem den Deutschen versichert er: Russland wird seine Verpflichtungen aus dem Fünf-Jahres-Vertrag für Gaslieferungen über die Ukraine erfüllen. Im Klartext: erstmal werde ich die fast fertig gestellte Nord Stream 2 Pipeline nicht nutzen, um Kiew zu erpressen. Dennoch verbindet er eindeutig die sichere Energieversorgung mit den Euro-Atlantischen Bestrebungen der Ukraine. Und zieht die rote Linie bei Kiews Annäherung an die NATO. Wie immer versucht er, den Ukrainern und dem Westen mit seiner Unberechenbarkeit Angst einzujagen. Und macht zugleich klar, was ihn besänftigen könnte: die Freilassung von Wiktor Medwedtschuk (auch wenn er das nicht direkt sagt); direkte Verhandlungen mit Separatisten der sogenannten Republiken Luhansk und Donezk - de facto von Russland kontrollierte Gebiete im Osten der Ukraine - unter Vermittlung Moskaus. Das würde einer offiziellen Anerkennung dieser pro-russischen Gebiete entsprechen; und natürlich irgendeine Zusicherung der Ukraine, der NATO nicht beizutreten.
In Kiew wird niemals irgendjemand irgendeiner dieser Bedingungen zustimmen. Also wird Putin irgendwann handeln: indem er die Gasversorgung über die Ukraine blockiert, das Marionettenregime im Donbass anerkennt oder die Ukraine sogar militärisch angreift. Der Kampf gegen das eingebildete "Anti-Russland" ist sein Lebenszweck geworden.