1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Schengen-Visa: Hast Du eins, bist Du wer!

Erkan Arikan Kommentarbild App
Erkan Arikan
3. September 2022

In der EU werden immer wieder Stimmen laut, dass Türken keine Schengen-Visa mehr erhalten sollten. Bereits die gegenwärtige Vergabepraxis ist eine beispiellose Machtdemonstration der EU-Länder, meint Erkan Arikan.

Allein dieser Antrag schlägt mit 80 Euro zu Buche. Wird er abgelehnt, ist das Geld verlorenBild: picture-alliance/dpa/S. Stache

Seit Tagen, nein, seit Wochen bekomme ich über die sozialen Netzwerke persönliche Nachrichten. Menschen aus der Türkei und aus Deutschland erzählen mir, dass sie oder ihre Verwandten kein Visum für den sogenannten Schengen-Raum bekommen, obwohl sie all die erforderlichen Dokumente vorgelegt haben. Hilflos bitten sie mich um Rat.

Anfangs dachte ich: Ach, wieder jemand der sich über die deutschen Behörden in der Türkei ärgert. Doch mittlerweile weiß ich, dass hinter jeder dieser Nachrichten ein ganz persönliches Schicksal steckt. Lehrer, die lediglich Bruder oder Schwester in den Niederlanden besuchen wollen; Rentner, die nicht zur Hochzeit ihrer Kinder nach Deutschland kommen dürfen; Künstler, die an einem Festival in Italien teilnehmen wollten. Doch nur in den seltensten Fällen bekommen diese Menschen derzeit eine Bewilligung. Und wenn, dann für deutlich weniger Tage, als sie beantragt hatten.

Ablehnungsquote steigt in die Höhe

Am schärfsten sei der Umgang Deutschlands mit den Visumsanträgen, berichten die türkische Medien. Das bestätigt selbst das Auswärtige Amt in Berlin: Türkische Staatsbürger bekommen gegenwärtig deutlich seltener Visa von den deutschen Vertretungen in der Türkei. Vorgeschoben wird die Krise der türkischen Wirtschaft und der permanente Brain-Drain der Akademiker.

Erkan Arikan leitet die Türkische RedaktionBild: DW/B. Scheid

Ja, in der Tat - die Situation in der Türkei ist derzeit eine absolute Katastrophe. Jeden Monat steigt die Inflation, nach offiziellen Zahlen lag sie zuletzt bei fast 80 Prozent. Auch die Zahl der Arbeitssuchenden ist auf einem Höchststand. Und nicht zuletzt die massiven Menschenrechtsverletzungen durch den türkischen Staat dürften zu den Gründen zählen, warum Visa nur noch sehr zurückhaltend erteilt werden: Zu groß ist die Angst der EU-Staaten, dass sich die Mehrheit der mit einem Visum Einreisenden irgendwo in Europa absetzen könnte und der türkischen Heimat den Rücken kehrt.

Genährt wurde die Sorge von der Behauptung, dass Studierende, die über ein Erasmus-Stipendium nach Europa kamen, vermehrt Asylanträge gestellt hätten - was in den türkischen Medien enorm breit berichtet worden ist. In Folge sind die Chancen türkischer Studierender, überhaupt in das Erasmus-Programm aufgenommen zu werden, rapide gesunken.

Aus Ärger wird fast schon Hass

Den meisten Menschen in Europa ist auch nicht bewusst, dass Anträge für Schengen-Visa im türkischen Preismaßstab enorm teuer sind. Allein als Visa-Gebühr müssen 80 Euro bezahlt werden. Wird das Visum nicht bewilligt, ist das Geld verloren. Hinzu kommen in den meisten Fällen noch Flug- und Hotelkosten für die bereits gebuchte Reise, die gar nicht angetreten werden kann. Ein Einspruch ist zwar möglich. Doch ob der irgendwann einmal erfolgreich ist, weiß nur Allah.

Darum wird der Ärger, fast schon der Hass auf die Schengen-Staaten immer größer. Verständlich? Denn Menschen, die in der Vergangenheit regelmäßig in der EU waren, bekommen keine Visa mehr. Menschen, die einem festen Beruf in der Türkei nachgehen, dort Kinder und ein eigenes Haus haben, bekommen keine Visa. Menschen, die trotz der widrigen Umstände in der Türkei wieder in ihre Heimat zurückkommen werden, bekommen keine Visa. Rentner, ehemalige "Gastarbeiter", die ohnehin seit Jahren in ihrem Sommerhaus in der Türkei wohnen und keinen Grund für einen dauerhaften Verbleib in Deutschland oder Europa hätten, bekommen keine Visa. Diese Entscheidungen der Konsulate sind nicht mehr nachvollziehbar!

Es muss sich etwas ändern

Die Vergaberichtlinien für Schengen-Visa müssen dringend auf den Prüfstand gestellt werden. Menschen, die früher schon Visa bekommen haben und häufig in Europa waren, sollten seitens der Behörden mit einem größeren Ermessensspielraum behandelt werden. Auch Menschen, die schon im Rentenalter sind und nur die Hochzeit ihrer Kinder feiern oder ihre Enkelkinder besuchen wollen, sollten ebenfalls keine Steine in den Weg gelegt werden. Unternehmer, die gerade die türkische Wirtschaft ankurbeln und zu Messen oder Vertragsverhandlungen in den Schengen-Raum reisen möchten, sollten erst recht ein Visum erhalten. Auch die reisehungrigen türkischen Touristen können nach der Pandemie ein Segen sein für Europa.

Die schwarzen Schafe, die dauerhaft in Europa bleiben wollen, gelangen in der weit überwiegenden Mehrheit ohnehin über illegale Einreisen an ihr Ziel. Unbescholtene türkische Staatsangehörige sollten deswegen nicht für die falsche Politik ihres Landes bestraft werden.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen