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PolitikTürkei

Meinung: Türkei: "Glaube keinem Meinungsforschungsinstitut"

Erkan Arikan Kommentarbild App
Erkan Arikan
15. Mai 2023

Weder sein Umgang mit dem Erdbeben noch die desaströse Wirtschaftslage scheinen Recep Tayyip Erdogan bei den Wahlen zu schaden. Dem Präsidenten ist zuzutrauen, das Ruder noch einmal herumzureißen, meint Erkan Arikan.

Sprechchöre vor der AKP-ZentraleBild: Kivanc El/DW

Nach über 20 Jahren Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP-Regierung schien der Machtwechsel zugunsten der Opposition wahrscheinlicher denn je. Aber erstens kommt alles anders, und zweitens als man denkt. Wer der kommende Präsident der Türkischen Republik werden wird, entscheidet sich im zweiten Wahlgang.

Noch nicht geschlagen: Amtsinhaber ErdoganBild: Aytac Unal/AA/picture alliance

Erdogan herrscht immer autokratischer in der Türkei. Doch sein Image wackelt. Grund ist die marode Wirtschaftslage, die zu einer verständlichen Unzufriedenheit in der Bevölkerung führt. Doch die Opposition hat es nicht geschafft, im ersten Wahlgang die Mehrheit zu erreichen, um den Präsidenten zu stellen. In 14 Tagen kommt es nun zum Showdown zwischen Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu.

"Wahlverlierer ist Kilicdaroglu"

Es ist weit nach Mitternacht. Vor der Parteizentrale der AKP haben sich schon seit dem frühen Abend Anhänger von Präsident Erdogan eingefunden und stimmen sich für einen künftigen Wahlsieg ihres "Reis", ihres "Kapitäns", ein. Doch der lässt auf sich warten. Noch immer gibt es kein valides Ergebnis. Wer liegt in Führung? Wer wird der neue Präsident? Und immer wieder dröhnt aus den monströsen Lautsprechern ein Lied: "Recep Tayyip Erdogan, Recep Tayyip Erdogan - unser Präsident!"

Wenn man den Meinungsforschungsinstituten im Vorfeld gefolgt wäre, hätte der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu Erdogan am Sonntag schlagen müssen. "Glaube keinem Meinungsforschungsinstitut", sagt mir unser Fahrer Sedat, der uns nach 1 Uhr nachts von der AKP-Zentrale ins Hotel fährt. "Keiner sagt bei diesen Firmen die Wahrheit. Im zweiten Wahlgang wird Erdogan wohl wieder gewinnen. Kilicdaroglu ist der Wahlverlierer", sagt er mit großer Enttäuschung in seinem Gesicht. "Unsere Leute haben doch Angst, ehrlich zu sagen, wen sie wählen, weil am nächsten Tag sonst die Polizei vor der Tür stehen könnte."

Alles kam anders, als alle dachten

Natürlich stellen sich jetzt alle die Frage, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte. Der geringe Stimmenanteil der nationalistisch geprägten IYI-Partei konnte den Kandidaten Kilicdaroglu nicht unterstützen. Des Weiteren blieb die prokurdische HDP unter 10 Prozent.

Eine Fahne mit dem Konterfei des favorisierten Kandidaten Kemal Kilicdaroglu wird im Wahlkampf hochgehaltenBild: AP Photo/picture alliance

Dies könnte auch daran liegen, dass sie, anders als bei den letzten Wahlen, keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellte. Dies führte dann dazu, dass nicht alle ihre Unterstützer zur Wahl gingen; d.h. eine Mobilisierung konnte nicht umgesetzt werden. Auch die offene Unterstützung der HDP für Kilicdaroglu passte vielen Kurden nicht.

Nationalisten und Ultranationalisten liegen vorne

Der Wahlkampf, der gerade auch auf dem Rücken der Flüchtlinge in der Türkei ausgetragen wurde, spülte die Stimmen in das Lager der Nationalisten. Ausnahmslos alle hatten diese Gruppe eher im unteren Prozent- oder gar im Promillebereich gesehen. Doch Sinan Ogan, der nationalistische Präsidentschaftskandidat, erhielt über 5 Prozent. Die in Umfragen bei 7 Prozent dümpelnde ultranationalistische MHP kam über 10 Prozent.

Erkan Arikan, Leiter der Türkisch-RedaktionBild: Ronka Oberhammer/DW

Die eindeutige Positionierung, möglichst viele Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken, kam bei den Wahlberechtigten in der Türkei an. Doch nicht nur das. Im Wahlkampf war eines mehr als nur häufig zu beobachten - es war, gerade aus dem Lager von Präsident Erdogan, eine Sprache der Gewalt, der Drohungen und der Angriffe zu erkennen. Und wenn Erdogan eines beherrscht, dann ist es die Dämonisierung seiner politischen Gegner: Kilicdaroglu erhalte seine Anweisungen von der PKK. Er hingegen sei anders: "Wir nehmen Befehle nur vom Herrn und unserem Volk entgegen!", schrie Erdogan um 2 Uhr morgens nach der Wahl vom Balkon seiner Parteizentrale ins Mikrofon. Und bei Wahlkampfveranstaltungen war vom Präsidenten zu hören: "Glaubt eher einem Mann, der gottesfürchtig ist, als einem Trunkenbold."

Erdbeben und Wirtschaftslage keine Faktoren

Kurz nach dem verheerenden Erdbeben im Februar dieses Jahres, bei dem allein in der Türkei über 51.000 Menschen ihr Leben verloren, dachten alle, dass Erdogan mit seinem miserablem Krisenmanagement in den AKP-Hochburgen, die im Epizentrum der Beben liegen, einen Denkzettel bekommen würde. Doch es kam auch hier anders.

Erdogans Unterstützer stehen zu ihrem PräsidentenBild: Khalil Hamra/AP Photo/picture alliance

Die AKP und Erdogan verbuchten in den Gebieten keine nennenswerten Verluste: nur knapp zwei Prozentpunkte. Doch diese Verluste nutzen nicht dem Oppositionskandidaten Kilicdaroglu - der Nationalist Sinan Ogan profitierte hier. Auch die desaströse Wirtschaftslage mit einer extrem hohen Inflation, einer noch höheren Arbeitslosigkeit und einem massiven Braindrain junger Universitätsabsolventen schadete Erdogan nicht. Scheinbar glauben viele, dass der amtierende Präsident das Ruder wieder herumreißen und die Türkei wirtschaftlich wieder ins richtige Fahrwasser bringen kann.

Auf Sinan Ogan und seine Anhängerschaft könnte es ankommenBild: DHA

Nationalist Ogan wird Königsmacher

In dem kommenden 14 Tagen richten sich die Augen nun auf den Nationalisten Sinan Ogan. Der frühere Abgeordnete der rechtsnationalistischen MHP ist von seiner "Denke" und seiner Ideologie eher der "Republikanischen Allianz" von Erdogan zuzurechnen. Ogan hat nun alle Trümpfe in der Hand. Mit seinen über 5 Prozent könnte er sich nun zurücklehnen und warten, welche Angebote ihm Regierungs- und Oppositionslager machen. Denn beide Koalitionen wissen, dass kein Weg an Ogan vorbei führt.

Auch wenn der rechtsnationale Ogan in der Vergangenheit oft gegen Erdogan gewettert hat, heißt das nicht, dass Kilicdaroglu Ogans Unterstützung sicher sein kann. Wie gesagt: Erstens kommt es immer anders, zweitens als man denkt.

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