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Politik

Wahlmotiv Angst in Chile

DW-Kommentarbild Emilia Rojas-Sasse App PROVISORISCH
Emilia Rojas
22. November 2021

Vor wenigen Monaten wäre ein Wahlsieg des Rechtspopulisten Kast noch undenkbar gewesen. Es zeigt, wie zerrissen das Land ist zwischen dem Wunsch nach Veränderung und der Sorge vor Unsicherheit, meint Emilia Rojas.

Bilder der Gewalt, wie bei dieser Demonstration am 18. Oktober, haben den Erfolg der Rechtspopulisten möglich gemachtBild: Luis Hidalgo/AP Photo/picture alliance

Die Vorwahl-Umfragen haben recht behalten: In Chile wird es eine zweite Runde bei den Präsidentschaftswahlen geben zwischen den beiden prognostizierten Kandidaten: dem linken Gabriel Boric und dem rechtspopulistischen José Antonio Kast. Dabei ist der Sieg des Letzteren, der weit am rechten Ende des politischen Spektrums steht, eigentlich überraschend in einem Land, das erst vor wenigen Monaten beschloss, sich eine neue Verfassung zu geben, die einen tiefgreifenden Wandel versprach und den Linken starken Auftrieb gab.  

Wie erklärt sich nun dieser Ausschlag des Pendels in die entgegengesetzte politische Richtung? Zu nennen wäre das Versagen der politischen Klasse, die seit der Wiederherstellung der Demokratie im Lande an der Macht ist. Die traditionellen Parteien sind die großen Verlierer dieser Wahlen. Die Christdemokratin Yasna Provoste war das Gesicht des ehemaligen Mitte-Links-Bündnisses, das nach dem Ende der Diktatur lange Zeit regiert hat und dem es nicht gelang, das Korsett des von Pinochet auferlegten Wirtschaftsmodells abzustreifen. Ihr mageres Ergebnis in dieser Wahl ist die Quittung. Aber auch der konservative Sebastián Sichel, der Spitzenkandidat der Regierung, erlitt ein Desaster, das durch denpolitischen Absturz des Noch-Präsidenten Sebastian Piñera mitverursacht wurde. Ein Absturz, der die Konservativen entscheidend schwächte und den Kast nutzen konnte, um die Regierungspartei rechts zu überholen.

Auf dem Weg zu den politischen Extremen?

Chile hat es nun mit zwei Präsidentschaftskandidaten zu tun, die sich beide weg von der Mitte bewegen: Boric nach links, Kast nach rechts. Das ist keine gute Nachricht. Aber bewegt sich die chilenische Gesellschaft deswegen nun hin zu den politischen Extremen? Nicht automatisch. Denn ein großer Teil der Stimmen für beide spiegelt nicht unbedingt ideologische Überzeugungen ihrer Wähler wider. 

DW-Redakteurin Emilia Rojas

José Antonio Kast, der seine Sympathien für das frühere Militärregime nicht verbirgt und an Jair Bolsonaro erinnert, gewann die erste Runde dieser Präsidentschaftswahl mit einem Programm, das der Sehnsucht nach Veränderung, die in der Protestwelle von 2019 zum Ausdruck kam und in der Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung mündete, diametral entgegengesetzt ist. Ein Paradoxon. Aber jeder Prozess des tiefgreifenden Wandels ist von Unsicherheiten begleitet. Und das macht nicht nur Unternehmern und Geschäftsleuten Angst, die befürchten, ihr neoliberales Paradies zu verlieren. Sondern eben auch Bürgern verschiedenster sozioökonomischer Schichten, die die Gewalt bei den Protesten erlebt haben und um die Stabilität des Landes fürchten.  

Die Angst vor Destabilisierung und Gewalt ist der größte Trumpf von Kast. Deshalb hat er am Wahlabend abermals seine Slogans von Ordnung, Frieden und der harten Hand gegen Kriminalität wiederholt. Es gehe letztlich um "Freiheit statt Kommunismus" - eine altbekannte Parole, die schon Ex-Diktator Augusto Pinochet verwendet hat und der damit stets meinte: "Ich oder das Chaos".

Diese beiden Männer gehen in die Stichwahl: der linke Gabriel Boric links und der rechte Jose Antonio Kast rechtsBild: Esteban Felix,/AP Photo/picture alliance

Das Rennen bleibt offen

Das Gegenstück zu Kast ist Gabriel Boric. Er ist nicht der Extremist, als den ihn sein Gegner darzustellen versucht, indem er die Unterstützung der Kommunisten für Boric hervorhebt. Der junge Ex Studentenführer liegt eher auf der Linie der europäischen Sozialdemokratie. Aber Boric, der die Fahne des Wandels hochhält, muss den Ängsten entgegenwirken, die Kast den Sieg in der ersten Runde ermöglichten. Vor allem darf er den Maximalforderungen seiner Unterstützer nicht nachgeben und muss die Chilenen davon überzeugen, dass ein gerechteres Land möglich ist, ohne Abenteuer zu riskieren. Denn der Wunsch nach Frieden und Sicherheit ist ebenso legitim wie der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit

Das Rennen bleibt trotz des Triumphs der Rechten im ersten Wahlgang offen. Zumindest die liberale Rechte sollte sich nicht zu sehr freuen, denn der Vormarsch von Kast ist nicht ihr eigener. Und der Ausgang der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen ist nicht wirklich vorhersehbar. Boric und Kast gehen beide mit umstrittenen Programmen auf die Zielgerade - in einem Chile, das gleichzeitig auf Verfassungsebene neu gezeichnet wird. Hoffentlich wird verstanden, dass ein grundlegender Wandel ohne Kompromisse und Sicherheitsgarantien nicht möglich ist. Aber auch, dass gesellschaftlicher Frieden nicht durch den Bau von mehr Gefängnissen erreicht wird, sondern nur durch Gerechtigkeit und sozialer Teilhabe möglichst vieler. Andernfalls schwelt die Lunte am Pulverfass weiter.

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