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Gesellschaft

Weihnachten, Corona und der Verlust von Nähe

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno
24. Dezember 2020

Dieses Jahr ist Weihnachten anders als sonst: Denn die Corona-Beschränkungen rücken unsere Körperlichkeit in den Blickpunkt. Und zwar als Verlust, meint Martin Muno.

Weihnachtskrippe in der Martinuskirche in Renningen-Malmsheim: Das Virus gehört dieses Jahr dazuBild: Marijan Murat/dpa/picture alliance

Wenn die rund 2,3 Milliarden Christen weltweit Weihnachten feiern, gedenken sie der Geburt eines Menschen. Ein abstrakter, nicht fassbarer (und vielleicht deshalb so oft als alter, weißer Mann dargestellter) Gott kam vor gut 2000 Jahren als Kind auf die Welt - oder wie es im biblischen Johannes-Evangelium poetisch heißt: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." Eine besondere Geburt also. Der Ort des Geschehens, ein Stall, war für einen Gott alles andere als angemessen; aber das gehört zur einprägsamen Logik der Geschichte dazu.

Auch das Weihnachtsfest 2020 ist ein besonderes - und wird von uns ebenfalls als unangemessen empfunden. Und das nicht nur, weil viele von uns aufgrund der Corona-Pandemie nicht mit denen zusammen sein können, die wir lieben, oder wegen eines Lockdowns keine Geschenke kaufen konnten. Wir feiern es vor dem Hintergrund einer aktuellen Erfahrung, die das Gegenteil der Fleischwerdung ist, wie sie Johannes im Neuen Testament der Bibel beschreibt. Es ist die tiefgehende, beunruhigende Erfahrung einer Entkörperlichung oder eines Kontrollverlusts, der mit dem Schlagwort "Social Distancing" nur unzureichend beschrieben wird.

Der einsame Mensch am Computer

Da ist zum einen der Verlust an einem "sozialen Körper". Wenn wir uns etwa ein Video aus der Vor-Corona-Zeit anschauen, in dem mehrere Menschen eng beisammenstehen oder sich gar umarmen, reagieren wir intuitiv entsetzt: "Was tun die? Das geht doch nicht!" Nur um uns einen Augenblick später daran zu erinnern, dass in diesem Jahr etwas verloren ging, das wir jahrzehntelang als Normalzustand erlebt und genossen haben.

Noch im Februar wurde Karneval als fröhliches Ereignis angesehen. Heute gilt es als Superspreader-Event.Bild: picture-alliance/dpa/A. Arnold

Gemeinsame körperliche Erfahrungen wie ein Stadion- oder Konzertbesuch sind zumindest vorerst nur in der Erinnerung real - Mitmenschen gelten derzeit als eine potenzielle Bedrohung und werden - völlig zurecht - auf Abstand gehalten.

Die tägliche Fahrt zur Arbeit wurde abgelöst durch die Einsamkeit des Home-Office. Ob das Meeting oder der kurze Plausch in der Teeküche - das Zusammensein mit Anderen verschwindet im virtuellen Raum der Video-Konferenzen. Die aber sind auf Effizienz getrimmt und nicht auf Gemeinschaft. Und dabei geht viel an Kommunikation verloren - denn Gestik und Mimik bleiben auf der Strecke, wenn die Köpfe der Kolleginnen und Kollegen nur als kleine Kacheln zu erkennen sind.

Die digitale Vernetzung holt den Job vom Büro an den Küchentisch - oder wo auch immer der Laptop steht und das WLAN gut ist. Die Arbeit wird ortlos und damit für manche - vor allem allein lebende Singles - auch zeitlos, ohne Anfang und Ende. Die neue isolierte Arbeitswelt hat ebenfalls eine Entkörperlichung zur Folge - was man spürt, ist nicht mehr die Nähe der Kolleginnen und Kollegen, sondern höchstens die eigenen Rückenschmerzen.

Der leidende Leib in der Intensivstation

Auch nach Feierabend bleibt der Austausch virtuell. Die Video-Konferenz wird ersetzt durch Facebook, Instagram, Whatsapp und Co. - dabei passt es irgendwie ins Bild, dass die beliebtesten Kommunikations-Apps unter einem Konzerndach versammelt sind. Emotionale Reaktionen werden banalisiert in Like-Daumen oder Herzchen - oder sie brechen sich in unkontrollierten Hass-Postings ihre Bahn. Im Verlauf der Pandemie hat sich der soziale Raum spürbar verändert: Wo sind die Menschen geblieben, die auf Balkonen singen oder überlasteten Pflegekräften applaudieren?

DW-Redakteur Martin Muno

Neben dem sozialen gibt es den unter der Pandemie leidenden Körper - und der verschwindet leider nicht. Das Bild des bewusstlos mit einem Schlauch in der Lunge auf der Intensivstation ums Überleben kämpfenden Leibes ist längst zur Ikone geworden. Und es gibt den schutzlosen Körper, der den Viren nicht ausweichen kann, weil er in Elendsvierteln, Massenunterkünften oder Flüchtlingslagern kaserniert ist. Oder der, der einsam stirbt.

Egal, ob wir gläubige Christen sind oder nicht: Die Weihnachtsgeschichte macht uns gerade vor dem Hintergrund der Pandemie klar, dass wir körperliche Wesen sind, die von Geburt an lebenslang Zuwendung und Zuneigung brauchen. Oder wie es die Philosophin Judith Butler ausdrückt: "Das Leben übersteigt die einzelne Person in Formen der gegenseitigen Abhängigkeit, die wir alle lernen sollten zu bejahen, auch wenn dieser Zustand im Moment bedrohlich erscheinen mag."

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