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Politik

Wir schaffen gar nichts in Moria

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
11. September 2020

Auf Lesbos hausen die Brandopfer aus dem Flüchtlingscamp Moria auf der Straße. Griechenland und die EU legen die Hände in den Schoß und lamentieren. Das geht nicht, meint Bernd Riegert.

Familien mit Kindern sind aus dem brennenden Flüchtlingslager Moria geflohen. Versorgt werden sie nicht.Bild: picture-alliance/dpa/AP/P. Giannakouris

Die Reaktionen der Politik in Europa auf das abgebrannte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos macht wütend. Innenminister Horst Seehofer, der zuständige EU-Kommissar Margaritis Shinas, der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und andere ergehen sich in Schwafelei über europäische Lösungen der Asylproblematik, von denen sie genau wissen, dass es sie seit fünf Jahren nicht gibt und so schnell auch nicht geben wird. Die Bundeskanzlerin hat kleinlaut in Berlin erklärt, eine europäische Asylpolitik gebe es im Moment überhaupt nicht. Wir schaffen gar nichts, könnte man in Abwandlung des berühmten Satzes von Angela Merkel von 2015 sagen.

Heute geht es auch nicht um imaginäre europäische Solidaritätskonzepte, sondern es geht heute um dringende Hilfe für mehr als 12.000 Menschen. Soweit wir wissen, sitzen diese auch drei Tage nach dem Niederbrennen des Lagers auf dem nackten Boden - ohne Wasser, ohne Essen, ohne Obdach. Vom Schutz vor Corona gar nicht zu reden. Das ist ein Skandal.

Eine Katastrophe mit Ansage

Die griechischen Behörden schauen entweder weg oder sind unfähig, Katastrophenhilfe zu leisten. Und der Rest Europas? Als die fürchterliche Bombenexplosion das Hafenviertel von Beirut verwüstete, waren wenige Tage später das Technische Hilfswerk aus Deutschland und französische Kriegsschiffe mit Hilfsgütern vor Ort. Wo sind sie jetzt? Ist es nicht möglich, Hilfe auf einer griechischen Insel zu organisieren? Und das auch noch bei einer Katastrophe mit Ansage, vor der die Hilfsorganisationen seit Jahren warnen, weil das Lager chronisch überlastet und falsch organisiert war.

Europakorrespondent Bernd Riegert

Es ist einfach nur schockierend, dass die einzige Antwort des zuständigen EU-Kommissars ist, man wolle "so schnell wie möglich" ein neues Lager mit Zelten bauen. Hallo, geht's noch? Will man warten, bis die ersten Menschen verdursten oder die Inseldörfer überfallen aus schierer Not? Der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller hat schon Recht, wenn er sagt, in drei Tagen könne man sehr wohl Tausende Menschen aus der misslichen Lage evakuieren. Technisch sei das kein Problem, aber es fehle der politische Wille. So einfach und so himmelschreiend empörend.

Deutschland und Frankreich haben sich bereit erklärt, jeweils 150 Kinder aufzunehmen. Acht weitere Staaten wollen zusammen noch einmal 100 aufnehmen. Das ist angesichts des Elends auf Lesbos wirklich ein Trostpflaster. Gut für die glücklichen 400, aber ein Armutszeugnis für die EU. Für die Bundesregierung ist es vor allem deshalb ein Armutszeugnis, ja ein Zeichen für Unmenschlichkeit, weil mindestens zehn größere Städte in Deutschland freiwillig erklärt haben, sie würden Opfer der Katastrophe in Moria aufnehmen wollen, und zwar sofort.

Abschreckung ist gewollt

Aus der Untätigkeit der europäischen Regierung kann man nur den Schluss ziehen, dass die Bilder des Elends, der Verzweiflung und des Scheiterns auf Lesbos gewollt sind. Sie sollen abschrecken. Das ist blanker Zynismus, der mit den so oft beschworenen europäischen Werten nichts mehr zu tun hat. Im Sommer 2018 hat der EU-Gipfel Abschreckung als Mittel der Migrationspolitik offiziell beschlossen. Die praktische Umsetzung dieser Politik erleben wir jetzt.

Völlig disqualifiziert hat sich die rechtspopulistische Oppositionsführerin im Deutschen Bundestag, Alice Weidel. Sie verlangt, kein Opfer aus Moria aufzunehmen, weil unter ihnen auch mögliche Brandstifter sein könnten. Die herzlose Frau Weidel sollte wissen, dass auch bei Brandstiftung die Feuerwehr zunächst löscht und Menschen rettet. Erst danach sucht die Polizei mögliche Täter. Das wäre bei einem Haus von Frau Weidel so, auf Moria darf es nicht anders sein.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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