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Politik

Ein Turnier zur falschen Zeit am falschen Ort

Brasilien Philipp Lichterbeck | Post aus Rio
Philipp Lichterbeck
2. Juni 2021

Kein Land in Südamerika wurde härter von der Corona-Pandemie getroffen als Brasilien. Jetzt ausgerechnet hier ein kontinentales Fußball-Turnier auszurichten, ist verantwortungslos, meint Philipp Lichterbeck.

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro beim Halbfinale seines Landes gegen Argentinien bei der jüngsten Copa America 2019Bild: Mauro Pimentel/Getty Images/AFP

Autokraten mögen internationale Sport-Events. Hervorragend lässt sich damit von Problemen und Krisen ablenken. Die Nation rückt hinter ihren Helden zusammen, in deren Licht sich auch die Regierung gerne sonnt.

Insofern ist es verständlich, dass Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro sofort zusagte, als die südamerikanische Fußballkonföderation CONMEBOL bei ihm anfragte, ob die diesjährige Copa America nicht kurzfristig in Brasilien stattfinden könne. Die CONMEBOL war in einem Dilemma. Zunächst sollte das Turnier - das südamerikanische Pendant zur Fußball-Europameisterschaft - gemeinsam in Kolumbien und Argentinien ausgetragen werden. Doch dann fiel zunächst Kolumbien wegen der politischen Unruhen aus, die von den Sicherheitskräften dort gewaltsam niedergeschlagen wurden. Dann sagte Argentinien ab, weil die Regierung befand, dass man die Corona-Pandemie noch nicht im Griff habe.

Ablenkung im richtigen Moment

In seiner Not - Anpfiff ist in knapp zwei Wochen - rief der CONMEBOL-Präsident Alejandro Domínguez in Brasilien an. Er erreichte den Präsidenten des brasilianischen Fußballverbands CBF, der wiederum Bolsonaros Nummer wählte - und binnen weniger Minuten eine Zusage hatte.

Philipp Lichterbeck ist Korrespondent in Rio de JaneiroBild: Privat

Das Event kommt für Bolsonaro genau richtig. Denn der rechtspopulistische Präsident, der immer autoritärere Töne anschlägt, steckt in einer tiefen Krise: Seine Zustimmungsraten sind die niedrigsten seit Amtsbeginn, Hunderttausende gingen vergangenen Samstag gegen ihn auf die Straße. Sein Umweltminister Ricardo Salles steht im Verdacht, mit der Holzmafia unter einer Decke zu stecken. Zu alldem legt in diesen Wochen ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss das Versagen der Regierung in der Corona-Pandemie offen.

Bolsonaro dürfte sich gedacht haben, dass es in dieser Situation keine schlechte Idee wäre, sich mit Brasiliens Superstar Neymar und den anderen brasilianischen Fußballern zu zeigen, die in der Mehrheit völlig unpolitisch sind, sich lieber mit Tattoos, Goldkettchen und Frauen beschäftigen.

Zynisches Kalkül

Die rund 500.000 Brasilianer, die bis zum Turnierbeginn an COVID-19 gestorben sein dürften, spielen in dem zynischen Kalkül keine Rolle. Auch dahinter steckt eine gewisse Logik. Bolsonaro hat die Pandemie von Beginn an kleingeredet. Er hat Zweifel an den Impfstoffen gesät und die Toten verhöhnt. Er forderte, die Brasilianer sollten "aufhören, zu heulen". Bis heute empfiehlt Bolsonaro das Malariamittel Chloroquin, das unwirksam gegen COVID-19 ist und schwere Nebenwirkungen verursachen kann.

Die Konsequenz ist, dass die Infektionszahlen in Brasilien derzeit wieder steigen. Zwar haben inzwischen 21 Prozent der Brasilianer mindestens eine Impfdosis erhalten, aber immer noch erliegen täglich im Durchschnitt rund 1800 Menschen dem Virus. Experten warnen vor einer dritten Welle und der Ausbreitung weiterer Mutanten. Erschwerend hinzu kommt, dass Armut und Hunger sich rasant in Brasilien ausbreiten. Immer mehr Menschen leben auf der Straße oder sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen.

Auf der Suche nach einem neuen Image

Doch weder Bolsonaro noch die CONMEBOL scheint das zu kümmern. Der Verband ist darum bemüht, sich ein neues Image zuzulegen, seit 2015 Dutzende seiner Vorstände wegen Korruption ins Gefängnis wanderten. Für ihn geht es um lukrative Sponsorenverträge und den Verkauf von Fernsehrechten. Bolsonaro wiederum will das Gefühl von Normalität vermitteln und unter allem Umständen von seiner Verantwortung für eine halbe Million Tote ablenken.

CONMEBOLl-Präsident Alejandro Dominguez bei der Auslosung der Copa America, die eigentlich bereits im vergangenen Jahr gemeinsam von Argentinien und Kolumbien ausgetragen werden sollteBild: Getty Images/G. Legaria

Der Corona-Untersuchungsausschuss des Parlaments hat ans Licht gebracht, dass Bolsonaro seit Beginn der Pandemie mindestens 41 E-Mails des Pharmakonzerns Pfizer unbeantwortet ließ, in denen das Unternehmen ihm Millionen von Impfdosen anbot. Nur wegen des Engagements der Landesgouverneure konnte in Brasilien überhaupt mit dem Impfen begonnen werden, und dies später als in den Nachbarländern. Nicht grundlos wird Bolsonaro deswegen von Brasiliens Opposition als "genocida" bezeichnet, als Völkermörder. Der Fußballkommentator Luis Roberto spitzte es zu: "Um Pfizer zu antworten, braucht er neun Monate - der CONMEBOL sagt er in zehn Minuten zu."

Eine Win-Win-Situation

Für Bolsonaro wie für die CONMEBOL ist es dennoch auf den ersten Blick eine Win-Win-Situation. Der Verband wahrt sein Gesicht und Bolsonaro lenkt den Blick weg von der Pandemie. Die CONMEBOL verspricht sichere Spiele: ohne Zuschauer und mit komplett geimpften Delegationen der zehn Teilnehmerländer. Sie argumentiert außerdem - nicht unrichtig -, dass in Südamerika bereits nationale Meisterschaften stattfinden und Qualifikationsspiele für die WM 2022 in Katar. Warum nicht auch die Copa America?

Sie vergisst, dass es weder in Brasilien noch sonst in Südamerika gegenwärtig Gründe für ein solches Turnier gibt. Wenn eine halbe Millionen Tote und die Gefahr der Ausbreitung neuer Mutationen kein Grund zum Innehalten sind, was dann? So wie die Fifa sich zum Komplizen der autoritären Regime in Russland und Katar gemacht hat, so macht die CONMEBOL sich nun zum Komplizen Bolsonaros.

Dass beider Rechnung am Ende nicht aufgehen könnte, zeigt der breite Widerstand in den sozialen Netzwerken und auch unter den Kommentatoren der traditionellen Medien. Dort wurde die Copa America 2021 bereits umgetauft zu "Covid America". Es ist ein Turnier zur falschen Zeit am falschen Ort.

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