Melatonin: Vom "Schlafhormon" zum Risikofaktor
11. November 2025
Melatonin soll Wunder wirken: ein paar Tropfen, Tabletten oder Gummibärchen – und schon schläft man besser, länger, tiefer. In Drogerien, Supermärkten und sogar für Kinder gibt es zahlreiche Präparate, die das "Schlafhormon" anpreisen. Doch was als harmlose Hilfe vermarktet wird, könnte sich als schleichendes Risiko entpuppen.
Eine neue Studie aus den USA warnt: Wer Melatonin über längere Zeit einnimmt, habe offenbar ein deutlich höheres Risiko, an Herzinsuffizienz zu erkranken oder früher zu sterben. Eine Herzinsuffizienz ist eine chronische Erkrankung, bei der das Herz nicht mehr in der Lage ist, den Körper ausreichend mit Blut und Sauerstoff zu versorgen, was zu typischen Beschwerden wie Atemnot, Leistungsminderung und Flüssigkeitseinlagerungen führt.
Zwar betonen die Forschenden, dass die Daten noch keinen kausalen Zusammenhang beweisen. Dennoch betrachten sie die Resultate als deutlichen Hinweis darauf, dass langfristiger Melatoningebrauch mehr sein könnte als ein harmloses Schlafexperiment.
Wissenschaft unter der Lupe: Neue Studien, neue Warnungen
Die neuen Daten stammen von einer neue groß angelegte Studie, vorgestellt bei den Scientific Sessions 2025 der American Heart Association (AHA). Für die Studie haben die Forschenden aus New York elektronische Gesundheitsdaten von mehr als 130.000 Erwachsenen mit chronischer Schlaflosigkeit analysiert. Über fünf Jahre hinweg verglichen sie Personen, die Melatonin mindestens ein Jahr lang einnahmen mit denen, die das nicht taten. Das Ergebnis: Die sogenannte Melatonin-Gruppe habe ein um rund 90 Prozent erhöhtes Risiko, eine Herzinsuffizienz zu entwickeln. Ihr Risiko, wegen dieser Erkrankung ins Krankenhaus zu müssen, sei sogar 3,5-mal höher. Und die Sterblichkeit insgesamt läge fast doppelt so hoch.
Allerdings werden die auf solch einer Konferenz vorgestellten Studien nicht zuvor von anderen, nicht involvierten Forschenden begutachtet - der sogenannte "peer review" Prozess - sondern von einem unabhängigen Prüfungsgremien kuratiert. Die Ergebnisse gelten deshalb als vorläufig, bis sie als vollständiges Manuskript in einer "peer-reviewed" wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht werden. Und es gibt bereits Kritik an dem Studiendesign: Ein direkter Zusammenhang zwischen Melatonin-Einnahme und steigendem Herzinsuffizienz-Risiko könne nicht bewiesen werden.
Vom Dunkelhormon zum Risikofaktor: Wie Melatonin den Herzrhythmus beeinflusst
Eigentlich ist Melatonin kein "Schlafhormon", sondern ein "Dunkelhormon": Es macht nicht schläfrig, sondern sagt dem Körper, wann es Zeit ist, sich auf die Nacht einzustellen. Das körpereigene Hormon wird in der Zirbeldrüse im Gehirn produziert. Mit der Dämmerung steigt der Melatonin-Spiegel im Blut an – ein Signal an den gesamten Körper, zur Ruhe zu kommen. Melatonin steuert so unseren zirkadianen Rhythmus, also das Zusammenspiel von Schlaf und Wachsein.
Tageslicht und Bildschirme mit blauem Licht (Stichwort Smartphone!) unterdrücken seine Ausschüttung. Daher setzen viele, die abends schwer zur Ruhe kommen, auf synthetische Varianten, die biochemisch identisch mit dem natürlichen Hormon sind.
Gefährliche Routine: Warum die Langzeiteinnahme von Melatonin bedenklich ist
Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Melatonin bei kurzzeitigen Problemen – etwa nach einem Langstreckenflug – helfen kann, den Schlafrhythmus zu stabilisieren. Doch der Trend, es täglich einzunehmen, hat längst Ausmaße erreicht, die Medizinerinnen und Mediziner beunruhigen.
In den USA gehört Melatonin zu den meistverkauften Nahrungsergänzungsmitteln, oft in Dosierungen, die den körpereigenen Spiegel um das Hundertfache übersteigen. Anders als Medikamente unterliegen diese Präparate keiner strengen Regulierung. Ihr Wirkstoffgehalt kann stark schwanken – selbst innerhalb derselben Marke.
Natürlich – aber keineswegs harmlos: Unterschätzte Nebenwirkungen
"Melatoninpräparate gelten gemeinhin als natürliche, sichere Option", sagte Studienautor Ekenedilichukwu Nnadi vom SUNY Downstate Medical Center. "Doch unsere Daten werfen ernsthafte Sicherheitsfragen auf."
Als bereits bekannte häufige Nebenwirkungen von Melatonin gelten laut "Gelber Liste" unter anderem Stimmungsschwankungen, Aggressivität, plötzliche Schlafattacken, Kopfschmerzen und Erschöpfung.
Melatonin werde viel zu leichtfertig verschrieben, meint auch die nicht an der Studie beteiligte Marie-Pierre St-Onge, Direktorin des Center for Sleep and Circadian Research der Columbia University. Sie warnte: "Ich bin überrascht, dass Ärzte Melatonin gegen Schlaflosigkeit verschreiben und es Patienten länger als 365 Tage verabreichen lassen, da Melatonin, zumindest in den USA, nicht zur Behandlung von Schlaflosigkeit zugelassen ist." Dass es dennoch so verbreitet eingenommen wird, sei medizinisch nicht nachvollziehbar, so St-Onge.
Kinder im Fokus: Was Melatoninpräparate für die Jüngsten bedeuten
Besonders kritisch ist die Entwicklung bei Kindern. In den sozialen Medien kursieren Videos, in denen Eltern "Schlafgummis" anpreisen. In den USA ist der Absatz melatoninhaltiger Gummibärchen für Kinder innerhalb weniger Jahre explodiert; viele Produkte enthalten Erstaunliches: bis zu 3 Milligramm pro Stück – das ist das Dreißigfache dessen, was der menschliche Körper nachts selbst produziert.
Laut US-Gesundheitsbehörden ist die Zahl der Vergiftungsfälle bei Kindern mit Melatonin in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Auch in Deutschland melden Kinderärztinnen und Kinderärzte zunehmend Fälle von Überdosierung und nächtlicher Benommenheit.
Ein weiteres Problem: Wer Melatonin über Monate einnimmt, kann in der Folge möglicherweise kaum noch ohne Tablette schlafen. Denn dem Körper wird signalisiert, dass er seine eigene Hormonproduktion drosseln kann, was die natürliche Schlafregulation zusätzlich stört.
Warum Rituale besser helfen als Gummibärchen
Die physiologische Balance des Schlafsystems ist sehr empfindlich. Melatonin greift tief in diesen Regelkreis ein – und wer dort dauerhaft manipuliert, riskiert mehr als nur eine unruhige Nacht.
Was bleibt, ist ein Plädoyer für einen vorsichtigen Umgang: Bis die Langzeitfolgen besser erforscht sind, sollte Melatonin als das behandelt werden, was es ist: ein wirksamer hormoneller Eingriff – kein Bonbon für erholsamen Schlaf.
Gerade Kinder brauchen keine Schlafchemie, sondern Rituale, Dunkelheit und Ruhe, sagen Fachleute. Der Griff zum Gummibärchen mag verlockend sein, aber er unterläuft das, was Schlaf eigentlich ist: eine Fähigkeit, die der Körper in den meisten Fällen selbst am besten beherrscht – wenn man ihn lässt.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel wurde am 12. November 2025 aktualisiert, um zu verdeutlichen, dass die Studie von Nnadi et al. noch nicht in einem peer-reviewed Journal erschienen ist. Außerdem wurde der Artikel um Kritik am Studiendesign ergänzt.