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Mengele - "Todesengel" in Auschwitz

Jacek Lepiarz | Agnieszka Maj
26. Januar 2020

Josef Mengele, ein Arzt aus Günzburg, wird zum SS-Massenmörder in Auschwitz. Er flieht nach dem Krieg nach Südamerika. Die Opfer seiner mörderischen Praktiken leiden bis heute.

Josef Mengele SS Offizier Kriegsverbrecher
Josef Mengele, der "Todesengel" von AuschwitzBild: picture-alliance/United Archives/TBM

"An sein Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern, nur an seine blank geputzten Stiefel. Als ich seine Schritte hörte, kroch ich unter die Pritsche, duckte mich, schloss die Augen. Ich dachte, er würde mich nicht finden", erzählt Lidia Maksymowicz, ein Opfer von Josef Mengele.

Sie kommt im Dezember 1943 nach Auschwitz-Birkenau - damals drei Jahre alt. Die Deutschen hatten ihre Familie aus der Umgebung von Minsk in Weißrussland in das Konzentrationslager verschleppt. Die Szenen nach der Ankunft im Lager hat sie bis heute nicht vergessen. Mitten in der Nacht, die Rampe im Scheinwerferlicht, SS-Leute brüllen, Wachhunde bellen. Familien werden brutal auseinandergerissen.  Auch Lidia wird von ihrer Mutter getrennt und in die Kinderbaracke gesteckt. Es ist ein Holzbau mit langen Reihen von Pritschen. Statt Matratzen gibt es Heu. Überall wimmelt es von Ungeziefer, die Decken sind steif vom Schmutz. Die Kinder leiden unter Hunger und Kälte. Noch mehr als Hunger und Kälte fürchten sie aber Besuche von Doktor Mengele.

List von Auschwitz-Häftlingen - darunter Lidia MaksymowiczBild: Agnieszka Maj/Interia

Der "Todesengel" kommt nach Auschwitz

Josef Mengele ist der älteste Sohn von Karl und Walburga, einer Unternehmerfamilie aus Günzburg in Süddeutschland. Er studiert Medizin und Anthropologie. Nach zweifacher Promotion forscht er am Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene in Frankfurt. Im Sommer 1940 meldet sich Mengele freiwillig zur Waffen-SS. Drei Jahre später wird der 32-jährige Sturmbannführer nach Auschwitz versetzt. Besonders aktiv ist der Lagerarzt bei der Selektion an der Rampe. Sein besonderes Interesse gilt Kindern, allen voran Zwillingen und Zwergwüchsigen.

Mengele prüft, ob die Augenfarbe durch Einspritzen von Farbstoffen geändert werden kann. Er operiert Kinder ohne Betäubung. Er infiziert Zwillinge mit Tuberkulose und Flecktyphus. Viele Kinder sterben bei diesen Versuchen. Andere werden gezielt getötet. Die Häftlinge nennen ihn den "Todesengel".   

Kampf ums Überleben

Die kleine Lidia kann sich vor Mengele nicht verstecken. Er testet an ihr Impfstoffe. Nach zahllosen Spritzen ist sie mehr tot als lebendig. Als sich ihre Mutter in ihre Baracke einschleicht, um ihr Essen zu bringen, sieht sie ihr Kind bewusstlos, mit hohem Fieber auf der Pritsche liegen.    

Denkmal in Günzburg für die getöteten Kinder von AuschwitzBild: DW/J. Lepiarz

Mengele war weder ein krankhafter Sadist noch ein fanatischer Nationalsozialist - schreibt Zdenek Zofka in seinem Buch "Günzburg in der NS-Zeit". Der Historiker vermutet bei ihm eher "grenzlosen Zynismus", der es ihm ermöglichte, seine Opfer nicht mehr als Menschen, sondern als "eigentlich schon totes Material" zu sehen, als "Meerschweinchen".     

Mengele flieht

Im Januar 1945, kurz bevor die Rote Armee Auschwitz erreicht, flieht Mengele Richtung Westen. Unter falschem Namen versteckt er sich in der Nähe von Günzburg. 1949 flüchtet er nach Südamerika. Seine Familie unterstützt den international gesuchten NS-Verbrecher mit Geld. 1979 stirbt Josef Mengele bei einem Badeunfall in Brasilien. Sein Tod wird von der Familie jahrelang geheim gehalten. Erst 1985 kommt die Wahrheit ans Licht. 

Die Vermutung liegt nahe, dass die Familie nicht bestraft werden wollte. Nach fünf Jahren verjähren Verbrechen rund um Geheimhaltung des Aufenthaltsorts einer gesuchten Person.

Eine einflussreiche Familie

Die Mengeles sind eine einflussreiche Familie. Karl Mengele, Vater von Josef, leitete bereits vor dem Krieg die Fabrik "Mengele & Söhne", die mit Erfolg Landwirtschaftsmaschinen produziert. Im November 1932 stellt Karl die Hallen seiner Fabrik für einen Wahlkampfauftritt von Adolf Hitler zur Verfügung.  Im Mai 1933 tritt er selbst in die NSDAP ein.   

Erfolgreicher Unternehmer und Zweiter Bürgermeister von Günzburg: Straßenname zu Ehren von Mengeles Vater KarlBild: DW/J. Lepiarz

In der Nachkriegszeit laufen die Geschäfte noch besser. Karl Mengele ist Stadtrat und Zweiter Bürgermeister. 1952 wird ihm die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. Eine Strasse trägt seinen Namen. Als er stirbt, übernimmt sein Sohn Alois, jüngerer Bruder von Josef, die Fabrik. Heute ist sie pleite.    

Kein Interesse an Medien

"Mengele" - meldet sich eine Frau, als ich die Telefonnummer der "Familie Dieter Mengele Sozialstiftung" in Günzburg anrufe. Als ich um einen Termin bitte, ist das Gespräch schnell beendet. "Wir sind an Kontakten mit Medien nicht interessiert", sagt die Dame höflich, aber entschlossen und legt auf.

Die Stiftung, die 2009 von Dieter Mengele, Sohn von Alois Mengele, gegründet wurde, hat bisher mehr als eine Viertelmillion Euro für mildtätige Zwecke gespendet. Mit der Vergangenheit will die Familie aber nichts zu tun haben. Sie beteiligt sich weder an der Zwangsarbeiter-Stiftung, noch an Bürgerprojekten, die an die Opfer von Josef Mengele erinnern.   

NS-Hochburg oder zufälliger Geburtsort?

Ein "monströser Schatten" liegt auf dem Namen dieser Stadt, sagt Rudolf Köppler, ehemaliges Stadtoberhaupt von Günzburg. Seit Jahrzehnten lebt die mittelschwäbische Kleinstadt im Schatten des "Todesengels", der 1911 in Günzburg geboren wurde und bis zum Abitur dort lebte. 

Vor 34 Jahren geriet Günzburg in die Schlagzeilen. Im Februar 1985 kommt es in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zum symbolischen "Tribunal" gegen Mengele. Vor laufenden Kameras berichten Überlebende über die Gräueltaten des KZ-Arztes. Das Echo ist überwältigend. Washington ordnet erneute Prüfungen des Falles Mengele an. Das Kopfgeld auf ihn steigt auf fast fünf Millionen Dollar. Reporter aus aller Welt belagern Günzburg - „Mengele-Town". "The town where Dr. Death still casts his evil shadow" (Die Stadt, in der der Arzt des Todes immer noch seinen bösen Schatten wirft), titelt der britische "Daily Express".    

Josef Mengele liege wie ein "monströser Schatten" über der Stadt, so der frühere Bürgermeister von Günzburg, Rudolf KöpplerBild: DW/J. Lepiarz

"Günzburg war keine NS-Hochburg. Die Stadt ist nicht schlimmer und nicht besser als andere deutsche Städte", erklärt Köppler. Mengele "hätte überall geboren werden können", betont der 83-jährige Sozialdemokrat. Er spricht sich gegen die Umbenennung der Karl-Mengele-Straße aus. "Das wäre Sippenhaftung, wie in der NS-Zeit", argumentiert er.          

Bürger erinnern an Mengele-Opfer

Nicht alle Günzburger sind mit der Geschichtsaufarbeitung der Stadt zufrieden. Einer von ihnen ist der Gymnasiallehrer Siegfried Steiger. Sein Engagement führt zur Errichtung eines Opfer-Denkmals für Janusz Korczak, den polnisch-jüdischen Pädagogen, der 1942 im deutschen Vernichtungslager Treblinka umgebracht wurde.           

Damit Mengeles Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten, spielt Steigers Experimentelles Theater seit 2005 das Stück "Zündeln - oder Josef M. und Seinesgleichen". "Wir prangern alle Ärzte an, die verbrecherische Menschenexperimente durchführen", erläutert der Lehrer.

Ideengeber für das Auschwitz-Denkmal: Gymnasiallehrer Siegfried SteigerBild: DW/J. Lepiarz

Aus der Zivilgesellschaft kam auch die Idee eines Mahnmals für die Opfer des SS-Arztes. Im Hof des Dossenbergerhauses hängt jetzt eine Gedenktafel mit einem Zitat von Jean Améry: "Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten", heißt es in der Inschrift. Das beeindruckende Mahnmal mit mehreren Dutzend Augenpaaren - eine Anspielung auf Mengeles Experimente - haben Schüler der Günzburger Gymnasien entworfen.      

Lidia überlebt Auschwitz

Lidia erlebt den Einmarsch der Roten Armee am 27. Januar 1945. "Nach der Befreiung befanden sich in der Baracke 160 Kinder im Alter von zwei bis 16 Jahren. Ich habe am längsten in Auschwitz gelebt", sagt sie. Allein in Auschwitz-Birkanau starben 200.000 Kinder.

Nach dem Krieg wird Lidia von einer polnischen Familie adoptiert. Ihre Mutter gilt lange als tot. Erst Jahre später finden sich Tochter und Mutter wieder. Die Angst vor Doktor Mengele bleibt. Beim Spielen warnt Lidia andere Kinder: „Schreit nicht so laut, sonst kommen die Deutschen".    

Lidia Maksymowicz macht nach dem Krieg eine Ausbildung als Chemikerin, heiratet, betreibt eine Firma. Ihr Familienleben leidet an den Folgen der Lagerhaft. "Ich war außer Stande, richtig und ehrlich zu lieben. Ich konnte nicht mal mein Kind so lieben, wie eine Mutter lieben sollte", so die 75-Jährige.

Aus der Reportage-Reihe "Schuld ohne Sühne", ein Projekt von DW Polnisch mit Interia und Wirtualna Polska. dw.com/zbrodniabezkary

 

Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.
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