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PolitikVietnam

Menschenhandel aus Vietnam nach Europa: Die Opfer schweigen

Rodion Ebbighausen | Thao Nguyen
20. Dezember 2024

Der Menschenschmuggel aus Vietnam nach Europa hat sich in den letzten Jahren zu einem großen Problem entwickelt. Die Behörden erhalten von den Opfern aber selten wichtige Informationen, um dagegen vorgehen zu können.

Ein Mann steht in einem Drahtkäfig. Symboldbild
Menschenschmuggel: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Bild: Panthermedia/imago images

Zwölf Jahre musste Nam (Name von der Redaktion geändert) warten, bis er aus Europa zu seinen Eltern nach Vietnam zurückkehren konnte. Nam hatte sich illegal in Deutschland aufgehalten. Da ihm dabei die zur Reise notwendigen Papiere fehlten, war eine frühere Heimkehr nicht möglich. 

2011 hatte er als junger Mann auf der Suche nach einem besseren Leben beschlossen, sein Glück in Europa zu versuchen. Der damals 20-Jährige und seine Familie liehen sich Geld, um Menschenschmuggler zu bezahlen.

Über Russland wurde Nam nach Deutschland geschmuggelt. Fortan führte er ein Leben als "nackter Mensch", wie illegal lebende Migranten und solche ohne Papiere in vietnamesischen Chatgruppen auf Facebook - wie Luật Pháp Đức (übersetzt: deutsches Recht) -  genannt werden.

In solchen Gruppen können Menschen anonym Fragen stellen, so etwa wie sich der Zugang zur Gesundheitsversorgung gestaltet, zu Reisen außerhalb Deutschlands, zu Heirat und Scheidung.

Kein Einzelfall

Nams Geschichte ist kein Einzelfall. Der Menschenhandel von Vietnam nach Europa ist in den letzten Jahren erheblich angewachsen. Das volle Ausmaß des Problems ist bislang noch unklar. Die Behörden in Europa gehen zwar hart gegen Schmugglerringe vor, sind allerdings nicht durchgehend erfolgreich.

In den Fokus der Öffentlichkeit rückte das Problem des Menschenhandels aus Vietnam im Oktober 2019, als 39 vietnamesische Staatsangehörige erstickt in einem Kühllastwagen entdeckt wurden, der vor einem Industriegebiet in der britischen Grafschaft Essex geparkt war.

Mehrere der Opfer waren vermutlich nach Europa geschmuggelt worden, wo sie als Zwangsarbeiter eingesetzt werden sollten. Die Täter wurden hart bestraft.

Als Reaktion darauf beschloss die Europäische Union in Zusammenarbeit mit Europol und Interpol im Jahr 2021, sich stärker auf die Bekämpfung des Menschenhandels zu konzentrieren. In Deutschland setzte das Bundeskriminalamt (BKA) ein vierjähriges Forschungsprojekt auf, um tiefere Erkenntnisse über die Netzwerke und Methoden des Menschenhandels mit vietnamesischen Staatsangehörigen zu erhalten.

So stellt das BKA in seiner Analyse fest, dass Männer überwiegend als Arbeitskräfte ausgebeutet, Frauen hingegen häufig sexuell missbraucht würden.

Schweigen als Herausforderung

Die Opfer dieses Menschenhandels schweigen in der Regel. Das trage dazu bei, dass über diese Verbrechen wenig bekannt ist, heißt es seitens der Strafverfolgungsbehörde. Tatsächlich hat keines der vietnamesischen Opfer aus der BKA-Studie Anzeige erstattet.

"Opfer erfahren eine sehr gravierende Verletzung, nämlich die ihrer Menschenrechte. Doch die Betroffenen scheinen sich selbst als Opfer oft nicht wahrzunehmen", sagt Tanja Cornelius, wissenschaftliche Mitarbeiterin im BKA-Forschungsinstitut Organisierte Kriminalität, Wirtschaftskriminalität und Cybercrime, im DW-Interview.

Das Schweigen der Opfer sei eine Herausforderung, sagt Nicole Baumann, Hauptkommissarin beim BKA und seit über 20 Jahren mit dem Problem des Menschenhandels befasst. "Ohne Opferaussagen sind entsprechende Strafverfahren kaum möglich." Viele Straftaten blieben deshalb unentdeckt und ungesühnt.

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Schmuggler und Opfer: ähnliche Interessen und Ziele

Cornelius wies auf die "perfide Situation" der Opfer hin, deren Ziele in gewisser Weise denen der Täter entsprächen.

So zeigen kriminalpsychologische Forschungen, dass nicht Menschenhändler, sondern deren Opfer Angst davor haben, erwischt zu werden und all ihr Geld und die Früchte ihrer Mühen zu verlieren.

"Viele Opfer gehen wohl davon aus, dass ihnen zunächst einige sehr harte Jahre voller Entbehrungen bevorstehen", sagt Baumann. In der Hoffnung, die Schulden schnell abzubezahlen und die notwendigen "Papiere" zu bekommen, blieben sie bewusst unter dem Radar und arbeiteten hart. Das helfe den Tätern, die ebenfalls ein Interesse daran hätten, unentdeckt zu bleiben.

Dass viele Opfer die Arbeit im Ausland als Chance sehen, zeige sich darin, dass sie sich hohe Summen leihen und erhebliche Risiken auf ihrer Reise nach Deutschland eingehen.

Schätzungen zufolge verlangen Menschenschmuggler zwischen 10.000 und 23.000 Euro pro Migrant. Das ist eine enorme Summe – insbesondere in einem Land wie Vietnam, wo das monatliche Pro-Kopf-Einkommen laut Regierungsangaben nur etwa 190 Euro beträgt.

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Gesellschaftlicher Druck

Auch Gruppenzwang spielt eine Rolle. In vielen Gemeinden Vietnams stehen hochgebaute Häuser und Villen von Neureichen, verziert mit Säulen und geschmückten Bogenflächen, die die europäische Architektur imitieren. Zudem gibt es eine Reihe so genannter "Milliardärsdörfer", in denen viele Einwohner durch Arbeitsexporte und Überweisungen von ausländischen Arbeitnehmern enormen Reichtum anhäuften.

Mehrere dieser Orte tragen Spitznamen wie "Seoul" oder "Europa" - in Anspielung auf die vielen Menschen aus diesen Gegenden, die im Ausland arbeiten.

Junge Vietnamesen, die wie Nam aus diesen sogenannten "Tycoon-Dörfern" stammen, stehen unter erheblichem Erfolgsdruck. Ihrer Familien und auch die Gemeinschaften vor Ort erwarten von ihnen, es jenen nachzutun, die bereits nach Europa ausgewandert sind.

Einige vietnamesische Menschenschmuggler und Vermittler von Arbeitsvisa nutzen zudem soziale Medien, in denen sie Bilder von teuren Autos, Luxusreisen oder schicker Markenkleidung verbreiten und so eine Entscheidung zur Auswanderung schmackhaft machen wollen.

In den sozialen Medien werde viel über angeblichen Reichtum kommuniziert, sagt Baumann. Dadurch entstehe ein falsches Bild. "Über Misserfolge wird hingegen kaum informiert."

Auch soziale Faktoren tragen dazu bei, dass die Opfer darüber schweigen. So führt der Erfolgsdruck dazu, dass vietnamesische Opfer über ihre Misserfolge oder Probleme, darunter harte Arbeitsbedingungen oder sexuelle Ausbeutung, nicht sprechen.

Manche Opfer sind zudem bereit, große Anstrengungen auf sich zu nehmen und jede Härte zu ertragen, um ihre Familie unterstützen zu können.

Der Fall von Essex im Jahr 2019 erwies sich jedoch als Wendepunkt. Nach dieser Tragödie machen mehrere Opfer des Menschenhandels ihre Geschichten publik - während sie selbst anonym blieben. Doch während die Tragödie kurzfristig erhebliche Medienaufmerksamkeit erhielt, geriet sie nach einiger Zeit wieder aus dem Fokus.

Anders als in vergleichbaren Fällen aus anderen Ländern dürfte Gewalt im Fall des vietnamesischen Menschenhandels eine eher untergeordnete Rolle spielen. Denn die Täter setzen in der Regel nicht auf Drohungen und Einschüchterungen, sondern auf sozialen Druck und die Erwartungen der Familien. 

Demonstrativer Reichtum in europäisch gehaltener Struktur: eine Siedlung wohlhabender VietnamesenBild: Phuong Hoang/DW

Notwendigkeit legaler Migration

Es gehe bei ihrem Projekt und ihren Forschungsergebnissen nicht darum, eine Gemeinschaft zu kriminalisieren, betonen die beiden BKA-Beamten Cornelius und Baumann. 

Die meisten Einwanderer aus Vietnam kommen ohnehin auf legalem Weg nach Deutschland. Sie sind zudem willkommen, da eine alternde deutsche Gesellschaft qualifizierte Arbeitskräfte aus Vietnam braucht.

Die Regierungen beider Länder haben den Bedarf an vietnamesischen Arbeitskräften erkannt und kürzlich ein Abkommen zur Förderung der Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte unterzeichnet.

Es werde aber immer eine kleine Zahl von Menschen geben, die den illegalen Weg suchen würden, sagt Nam. Dieser Weg biete aus ihrer Sicht gewisse Vorteile. "Die Betroffenen müssen kein Deutsch lernen. Und was noch wichtiger ist: Sie können sofort mehr Geld verdienen. Für einige schlecht ausgebildete Vietnamesen aus Dörfern mit geringen wirtschaftlichen Aussichten macht diese Perspektive Sinn", so Nam.

Was tun?

Die Bekämpfung von Kriminalität und Menschenschmuggel erfordert gesamtgesellschaftliche Anstrengungen. Dabei müssen Beamte aus Vietnam und Deutschland eng zusammenarbeiten.

Vietnam hat gerade seinen Bericht "Migration Profile 2023" veröffentlicht. Das Land arbeitet zudem mit globalen Behörden wie Interpol zusammen und erwägt, dem Protokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg beizutreten, das das UN-Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität ergänzt. Dieser Schritt soll die internationale Zusammenarbeit beim Grenzmanagement fördern und grenzüberschreitende Kriminalität unterbinden.

Bildung und Sensibilisierung seien aber weiterhin von zentraler Bedeutung, sagt Baumann. Dies gelte insbesondere mit Blick auf jene Personen, die Opfer von Menschenhandel werden könnten. Einzelpersonen und Familien könnten nur dann die richtigen Entscheidungen treffen, wenn sie wüssten, wie die Situation für illegale Migranten in Deutschland aussehe, so der Beamte.

Es gibt jedoch legale Möglichkeiten zur Migration, über die sich jeder Vietnamese bei der deutschen Botschaft in Vietnam informieren kann. Das mag zwar größeren zeitlichen Aufwand erfordern, ist dafür aber eine sicherere Option.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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