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PolitikÄgypten

Menschenrechte für Ägyptens westliche Partner kein Thema?

Cathrin Schaer
4. Juli 2023

Vor zehn Jahren ergriff das ägyptische Militär mit Abdel Fattah al-Sisi an der Spitze die Macht. Seitdem habe sich die Lage der Bürgerrechte weiter verschlechtert, so Aktivisten - doch im Fokus stehe oft anderes.

Kundgebung für die bis zu 65000 politischen Gefangenen in Rom, November 2022
"Befreit sie alle": Kundgebung für die bis zu 65000 politischen Gefangenen in Rom, November 2022Bild: Riccardo Antimiani/ANSA/picture alliance

Wenn er wollte, könnte der ägyptische Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi dieser Tage ein Jubiläum der eigenen Art feiern: Zehn Jahre ist der Militärcoup nun her, der ihn ins Amt brachte. Am 3. Juli 2013 entmachtete das ägyptische Militär den demokratisch gewählten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi und setzte eine Übergangsregierung ein. Am 8. Juli kam es zu einem schweren Gewaltausbruch, bei der ägyptische Sicherheitskräfte nach unterschiedlichen Angaben vermutlich mehr als 50 Anhänger des gestürzten Präsidenten erschossen. Der sogenannte "Arabische Frühling" war endgültig zu Ende.

Abdel-Fattah al-Sisi, ranghoher General des allmächtigen ägyptischen Militärs, erklärte den aus den Reihen der islamistischen Muslimbrüder entstammenden Mursi für abgesetzt. Diesem sei es nicht gelungen, einen "nationalen Konsens" zu schaffen, so die Begründung. Allerdings habe das Militär kein Interesse, die politische Macht zu behalten, und werde eine Rückkehr zu einer demokratischen Zivilregierung ermöglichen, versprach al-Sisi damals.

Ein Jahrzehnt später ist al-Sisi immer noch an der Macht, wenngleich er sich heute als Zivilist präsentiert und zumindest formell auf ein Wählervotum stützen kann. Und in vielerlei Hinsicht ist die Situation für einfache Ägypter schwieriger denn je. Die Wirtschaft befindet sich in einer Krise. Auslandsschulden, steigende Inflation und eine fast um die Hälfte abgewertete Währung setzen Staat und Bürgern zu. Rund ein Drittel der 105 Millionen Ägypter lebt in Armut. Um seine Auslandsschulden zu finanzieren, verkauft oder vermietet das Land staatliche Vermögenswerte wie die Telefongesellschaft Telecom Egypt, öffentliche Verkehrsmittel oder Häfen.

Blick auf ein neues Stadtviertel vor den Toren Kairos Bild: Friedrich Stark/IMAGO

Rigorose Machtsicherung

Gleichzeitig hat al-Sisi seine Macht rigoros ausgebaut. Unabhängige Journalisten und regierungskritische Aktivisten wurden schikaniert oder verhaftet. Ein ehemals inhaftierter ägyptischer Aktivist erzählte der investigativen Journalismus-Website 'Coda Story' sogar von Verhaftungen auf offener Straße: Militäroffiziere hielten Menschen auf der Straße an und überprüften deren Telefone. Fänden sie Hinweise, dass die Bürger in den sozialen Medien kritische Beiträge über die ägyptische Regierung oder das Militär gepostet oder auch nur 'geliket' oder darüber Witze gemacht hätten, würden diese verhaftet

Auch die in den USA ansässige Denkfabrik 'Freedom House' stuft Ägypten als "nicht frei" ein. Zwar hat das Land im globalen Ranking des mit Fragen von Demokratie und Menschenrechten befassten Instituts schon länger keinen guten Stand. Doch in den vergangenen Jahren ist Ägypten noch einmal zusätzlich abgerutscht: Kam es im Jahr 2018 immerhin noch auf 26 von 100 Punkten, liegt es in diesem Jahr nur noch bei 18 Punkten. Zum Vergleich: Marokko kommt auf 37 von 100 Punkten, Deutschland auf 94.

Die Repression ist enorm. So zählt Ägypten zu den "führenden" Ländern bei der Todesstrafe. Zudem haben neue Gesetze - darunter eines, das Nichtregierungsorganisationen zwingt, sich beim Staat registrieren zu lassen - den zivilgesellschaftlichen Raum und die Medienfreiheit zusätzlich schrumpfen lassen.

Plädoyer für kritischen Blick

Ägyptens Nachbarn und westliche Verbündete verfolgten mit Blick auf diese Probleme einen unausgewogenen Ansatz, monieren Kritiker seit längerem. Während die wirtschaftlichen Probleme des Landes regelmäßig angesprochen würden, finde die sich seit al-Sisis Machtübernahme rapide verschlechternde Menschenrechtslage erheblich weniger Beachtung.

Anfang 2022 schrieben über 170 europäische Parlamentarier aus unterschiedlichen Ländern einen Offenen Brief an ihre eigenen Spitzendiplomaten sowie Botschafter beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Darin forderten sie die Einrichtung eines Sondergremiums zur Überwachung der sich verschlechternden Menschenrechtslage in Ägypten. 

"Wir sind äußerst besorgt über das anhaltende Versäumnis der internationalen Gemeinschaft, sinnvolle Maßnahmen zur Bewältigung der Menschenrechtskrise in Ägypten zu ergreifen", schrieben die Politiker. "Dieses Versäumnis hat zusammen mit der fortgesetzten Unterstützung der ägyptischen Regierung und dem Widerwillen, die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen anzusprechen, bei den ägyptischen Behörden das Gefühl der Straflosigkeit weiter verstärkt."

Im vergangenen Sommer hielt sich Sanaa Seif in Deutschland auf. Seif ist die Schwester des Dissidenten Alaa Abdel-Fattah, einer der bekanntesten politischen Gefangenen in der arabischen Welt. In Berlin traf sie Politiker, die sich für die Freilassung ihres Bruders einsetzten. Mit wem sie gesprochen hatte, durfte sie allerdings nicht verraten. Der Besuch mache für sie keinen Sinn, wenn sie sehe, dass deutsche Politiker sich scheuen, über Menschenrechte zu sprechen, resümierte Seif ihre Unterredungen im Gespräch mit der DW. "Es ist so, als wollten die Politiker keine Unruhe entfachen." Vor wenigen Tagen allerdings kritisierte der  Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestags die Situation der Menschenrechte in Ägypten. 

Im Einsatz für die Freiheit ihres Bruders, den seit Jahren verhafteten Aktivisten Alaa Abdel Fatah: Sanaa al-SeifBild: Kin Cheung/AP/picture alliance

Ägyptens Regierung unbeeindruckt

Ägyptens Regierung verweist ihrerseits gerne darauf, dass es einige Initiativen im Bereich der Menschenrechte ergriffen habe, etwa die Aufhebung des Ausnahmezustandes im Oktober 2021, die Verabschiedung einer nationalen Menschenrechtsstrategie im September 2021, die Neueinsetzung eines Nationalen Menschenrechtsrates im Januar 2022 sowie das 2022 ausgerufene "Jahr der Zivilgesellschaft“. Neben Dialogen mit Regierungskritikern habe es auch Begnadigungen von Gefangenen gegeben. Viele Menschenrechtler sehen darin freilich nur ein Feigenblatt und erkennen keine echten Fortschritte.

Dass Ägypten sich von in- und ausländischer Menschenrechts-Kritik bislang wenig beeindruckt zeige, gehe auf mehrere Faktoren zurück, meint Timothy Kaldas, stellvertretender Direktor des Tahrir Institute for Middle East Policy. Ein Grund sei die Lage des Landes an der Schnittstelle zwischen Afrika, Asien und Europa. Durch sie sei Ägypten strategisch bedeutsam. Mit seiner großen Bevölkerung und seinem gewaltigen Militärapparat gelte Ägypten zudem als gewichtige Regionalmacht. Als solche habe Ägypten auch eine lange Tradition, verschiedene internationale Verbündete zugunsten eigener Interessen geschickt gegeneinander auszuspielen.

Ägypten habe es zudem verstanden, bilaterale Beziehungen auf Grundlage großer Waffengeschäfte aufzubauen, so Kaldas. Ein Ende 2022 veröffentlichter französischer Jahresbericht über Waffenverkäufe zeigt, dass Ägypten seit 2012 der größte Importeur französischer Waffen aus Frankreich ist. Auch für Deutschland ist Ägypten ein bedeutender Waffenkäufer. Das Volumen der Waffenexporte nach Ägypten hat unter al-Sisi zugenommen und das Land zum drittgrößten Waffenimporteur weltweit gemacht.

Aus deutscher Herstellung: die ägyptische Fregatte Ens al-AzizBild: Joerg Waterstraat/picture alliance

Furcht vor irregulärer Migration

Zudem gelte Ägypten ungeachtet des autoritären Vorgehens der Regierung al-Sisi als vergleichsweise stabiles Land in der Region, insbesondere im Vergleich zu Kriegs- und Krisenländern wie Syrien oder Jemen. "Dieser Umstand trägt dazu bei, Überweisungen an den ägyptischen Staat zu rechtfertigen. Sie werden in der Hoffnung getätigt, dass Ägypten weiterhin stabil bleibt." Ein weiterer Faktor sei die demographische Bedeutung des Landes, meint Kaldas: "Ägypten ist ein 100-Millionen-Volk am Mittelmeer."

Für ein Europa, das unablässig vom Schreckgespenst der irregulären Migration und möglicher populistisch-politischer Reaktionen der eigenen Bürger darauf heimgesucht wird, sei dies "von erheblicher Bedeutung", meint Kaldas.

"Das Problem ist, dass die westlichen Staaten oft nicht erkennen, wie kurzsichtig ihr Ansatz ist", sagt Kaldas. "Es geht nicht so sehr darum, dass sie im Gegenzug für ihr Wegschauen bei Menschenrechtsverletzungen Stabilität erhalten. Im Gegenteil, die Menschenrechtsverletzungen tragen direkt zur wirtschaftlichen Instabilität des Landes bei." Ägyptens Wirtschaftskrise beispielsweise gründe vor allem auf dem Umstand, dass al-Sisis Strategie im letzten Jahrzehnt darin bestanden habe, "den ägyptischen Staat rücksichtslos auszuhebeln, um auf diese Weise die Konsolidierung seiner Macht und sein Patronagenetzwerk zu finanzieren".

"Willkommen in Deutschland": Plakat zu Ehren al-Sisis während seines Besuchs in Deutschland, Juli 2022, aufgehängt vermutlich von Anhängern des PräsidentenBild: Michael Kuenne/ZUMA/picture alliance

Versickernde Finanzmittel

Wie solche Mechanismen in Ägypten funktionieren, hat auch ein deutscher Experte untersucht. "Vorhandene Mittel fließen nicht in produktive Zukunftsinvestitionen, sondern versickern in ökono­misch fragwürdigen Infrastrukturvorhaben und dienen zumindest indirekt der Finanzierung polizei­staatlicher Repression", schreibt Stephan Roll, Ägypten-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, in einer im Dezember vergangenen Jahres erschienenen Analyse. "Problematisch ist dies nicht nur hinsichtlich der Menschenrechtslage, sondern auch mit Blick auf die langfristige politische Stabilität Ägyptens. Bei einem Kollaps des Landes drohen zu­nehmender Migrationsdruck sowie ein Export terroristischer Gewalt."

"Für die Festigung von Präsident Sisis Macht spielte diese Entwicklung eine entscheidende Rolle", betont Stephan Roll. "Die Loyalität der Streitkräfte ist die wichtigste Voraussetzung, um eine umfassende polizeistaatliche Repression durchsetzen zu können. Der Präsident war so in der Lage, jegliche politische Opposition im Keim zu ersticken. Zehntausende von politischen Gefangenen und ein für ägyptische Ver­hältnisse dramatischer Anstieg bei Todesurteilen und Hinrichtungen sind Ausdruck dieser Entwicklung."

Zur Lösung des Problems haben Roll und Kaldas ähnliche Vorschläge. Es gelte die Zusammenhänge zwischen dem aus dem Ausland nach Ägypten fließenden Geld und den dort verübten Menschenrechtsverletzungen zu erkennen, sagt Kaldas. "Es ist nicht Aufgabe einer externen Macht, Ägypten zu zwingen, eine Demokratie zu werden. Wohl aber ist es ihre Pflicht, die Autokratie nicht weiter zu subventionieren und so dabei zu unterstützen, ihren diktatorischen Charakter zu pflegen."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Ägypten: Revolution der Rollschuhfahrer

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